Montag, 20. April 2020

Corona-Krise: Was, wenn es ganz anders war?

Immer öfter lese und höre ich die Befürchtung, dass wir nicht mehr zu einer Zeit vor COVID-19 zurückkehren können.  Die gute alte Zeit sei leider leider vorbei.  Keine Konzerte mehr, keine Fußball-Matches, keine dicht gedrängten Dancefloors. Abstand und Mundschutz bleiben fortan überall verpflichtend. Zumindest bis es eine wirksame Impfung für alle gibt.

Alle Menschen sind gefährlich und das Virus bringt uns um (Foto: Prachatai)
Es verbreitet sich eine Stimmung, die ich in dieser Intensität davor nur bei der Impfpflicht-Debatte bei Masern beobachtet habe: Viele Menschen fühlten sich oder ihre Kinder durch andere – ungeimpfte – Kinder, die eventuell Masernviren verbreiten könnten, persönlich bedroht. Und sie votierten deshalb in Umfragen zu rund 80% für die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht.
Ich zitiere das jetzt nicht, um die Sinnhaftigkeit der Masernimpfung zu diskutieren. Dazu habe ich anderswo meine Sichtweise beschrieben. Es geht darum, dass – erstmals seit der 1976 in (West-)Deutschland abgeschafften Impfpflicht gegen Pocken – wieder eine Zwangsimpfung eingeführt wurde. Und das, obwohl mehr als 95% der Kinder ohnedies freiwillig geimpft worden sind. Es ging bei dieser Aktion also eher um das politische Ausnützen einer Stimmung in der Wählerschaft und um die symbolische Umsetzung des Schutzbedürfnisses in Gesetzestext.

Dasselbe Muster bricht jetzt bei Corona durch.
Alte Menschen, Menschen mit überstandenem Herzinfarkt oder Krebs, Menschen mit chronischen Krankheiten: viele von ihnen fürchten sich nun vor einer potenziell tödlichen Infektion mit den Coronaviren. Sie schützen sich und sie ziehen sich zurück und sie wollen, dass sie - wenn sie schon mal raus gehen - auch von allen anderen verlässlich geschützt werden. Und das dauerhaft während des kommenden Sommers - und erst recht wieder danach.

Auch die Regierenden neigen zu dieser Sichtweise, wie etwa das am 15. 4. beschlossene "Corona-Paket" der deutschen Bundesregierung zeigt. Darin heißt es, dass wir "für längere Zeit lernen müssen, mit der Pandemie zu leben."
Punkt 17 dieser Verlautbarung lautet:
Eine zeitnahe Immunität in der Bevölkerung gegen SARS-CoV-2 ohne Impfstoff zu erreichen, ist ohne eine Überforderung des Gesundheitswesens und des Risikos vieler Todesfälle nicht möglich. Deshalb kommt der Impfstoffentwicklung eine zentrale Bedeutung zu. Die Bundesregierung unterstützt deutsche Unternehmen und internationale Organisationen dabei, die Impfstoffentwicklung so rasch wie möglich voranzutreiben. Ein Impfstoff ist der Schlüssel zu einer Rückkehr des normalen Alltags. Sobald ein Impfstoff vorhanden ist, müssen auch schnellstmöglich genügend Impfdosen für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen.
Eines scheint jetzt schon sicher: Ab dem Zeitpunkt, wo eine Corona-Schutzimpfung zur Verfügung steht, wird die Impfverweigerung als gemeingefährliche Drohung gegen die Allgemeinheit verstanden - und auch entsprechend geahndet werden. Politiker unterschiedlichster Lage – etwa der bayrische Ministerpräsident Markus Söder, oder Grünen-Chef Robert Habeck – outen sich bereits jetzt als Befürworter einer Impfpflicht. Ebenso wie viele Ärzte-Funktionäre.

So sieht die Perspektive aus. Eine andere Reaktion ist bei den vorherrschenden Denkmustern nicht zu erwarten. Und diese gedankliche Abfolge läuft so:
  • Ohne Maßnahmen wäre die Infektionskurve exponentiell weiter gewachsen
  • Und die Viren hätten Abermillionen Menschen getötet
  • Wir aber haben die Viren-Krise durch den Lockdown gemeistert
  • Jetzt sind wir stolz - aber auch vorsichtig - denn die Viren können jederzeit zurück kommen

Was aber, wenn es ganz anders war?

Coronaviren machen in der kalten Jahreszeit rund 15% der grippalen Infekte aus. Das Immunsystem der Kinder und der meisten Erwachsenen wird damit problemlos fertig. Für Risikogruppen kann die aktuelle Mutation jedoch einen entscheidenden Unterschied ausmachen, weil das Immunsystem heftiger auf den Infekt reagiert als bei den "normalen" Coronaviren - und damit lebensgefährliche Lungenentzündungen und andere Symptome auslösen kann.

In Österreich liegt das durchschnittliche Alter der an der Corona-Infektion verstorbenen Personen bei rund 80 Jahren. Wie es jetzt aussieht ist die aktuelle Sterbekurve nicht auffällig, sie entspricht der normalen Mortalität in der kalten Jahreszeit. Im Winter 2017/18, aber speziell 2016/17 (siehe Grafik) schlug die Kurve in Deutschland oder Österreich deutlich höher aus und es gab eine wesentlich stärkere Sterblichkeit in der kalten Jahreszeit. Wir haben statistisch gesehen bisher also einen relativ unauffälligen Winter hinter uns. 

In den meisten Ländern hatte die Corona-Pandemie keine sichtbaren Auswirkungen
auf die Sterbekurve, in anderen Ländern (wie hier Belgien, Frankreich) sehr wohl
(Quelle: Euromomo.eu, Zeitraum Januar 2016 - April 2020)

Doch was ist mit Italien, New York und den anderen Hotspots der Krise? Da gab es doch ganz eindeutig eine Übersterblichkeit?

Das ist unbestritten. Denn es kam in unterschiedlichen Regionen zu unterschiedlich starken Verbreitungen der Viren. Mediziner berichteten, dass es in Oberitalien bereits im November zu ungewöhnlich heftigen Verläufen von Lungenentzündungen gekommen war. Dies spricht dafür, dass die Viren deutlich länger Zeit hatten, sich zu verbreiten, als bisher angenommen wurde. Und so erreichte die Infektion mit den neuartigen Viren eine große Anzahl von Menschen. Die stark betroffene Region Lombardei hat mehr als 10 Millionen Einwohner und zählt zu den am dichtesten bewohnten Gegenden Europas - mit einer überdurchschnittlich alten Bevölkerung.
Die Krankheitskurve stieg plötzlich stark an. Und das wurde - verstärkt durch die massenhaft durchgeführten Tests und die enorme mediale Aufmerksamkeit - live ins Wohnzimmer übertragen. Die Welt war geschockt und das verstärkte die Krise zusätzlich. Bestattungs-Unternehmen weigerten sich beispielsweise, die infizierten Toten abzuholen - zumal Begräbnisse sowieso nicht erlaubt waren. Die Leichen stapelten sich. Das Militär musste anrücken. Die psychologische Wirkung dieser Bilder auf eine unvorbereitete Öffentlichkeit war enorm.

Ab diesem Zeitpunkt ging es für die meisten Politiker darum, unbedingt öffentlichkeitswirksam zu handeln, um diese Krise mit den unabsehbaren Folgen für das heimische Gesundheitssystem vom eigenen Land fern zu halten. Mit gutem Management und entsprechender Message Control konnte das der eigenen Popularität sogar nutzen. 
Und so wurde ein Schritt nach dem anderen getan - der scheinbar alternativlos in die aktuelle Situation mündete.

Es gab also einen regional besonders starken Verlauf dieser neuartigen Infektion. Diese lief zunächst unbemerkt und mündete dann in einer großen Anzahl von kritisch erkrankten Personen, die gleichzeitig in die Krankenhäuser eingeliefert wurden. Das Sterberisiko nahm kurzfristig stark zu. Gleichzeitig verbreiteten sich jedoch die Viren wie ein Flächenbrand - die weitaus meisten Menschen in den Hotspots hatten nur die typischen grippalen Infekte oder gar keine Symptome. Doch sie waren fortan immun - und damit bildeten sie eine unsichtbare Wand, welche die Epidemiekurve auch relativ rasch wieder zum Absturz brachte.

Anderswo verlief der Anstieg der Kurve nicht so steil - das Gesundheitssystem wurde nicht so stark überlastet - die Sterbekurve war nicht sonderlich auffällig. Über ein ganzes Jahr gesehen unterscheidet sich die Mortalität zwischen Ländern mit starkem Ausschlag der Epidemie-Kurve und Ländern mit flachem – aber längerem – Verlauf dann aber möglicherweise gar nicht mehr so stark.
Zudem haben die schwerer betroffenen Länder bereits einen höheren Anteil an Menschen, die gegen die neuen Coronaviren immun sind. Wie hoch dieser Anteil genau ist, werden die anlaufenden Antikörper-Tests in den nächsten Wochen zeigen.

Wie sehr der radikale Lockdown des Sozial- und Wirtschaftslebens gerechtfertigt war, wird sich auch im Vergleich mit Ländern zeigen, die deutlich mildere Maßnahmen verhängt haben. Da steht uns noch eine spannende Analyse bevor. 
Einen Vorgeschmack auf wissenschaftliche Fakten, welche die derzeit bestehende Interpretation der Wirksamkeit der Maßnahmen erschüttern könnte, geben schon jetzt einzelne wissenschaftliche Arbeiten.


Der Lockdown kam erst im Nachhinein

Das Berliner Robert Koch Institut (RKI) hat kürzlich ausgerechnet, wie sich die berühmte Reproduktionszahl R im Lauf der letzten Wochen verändert hat.
R=1 würde bedeuten, dass ein Corona-Infizierter eine weitere Person ansteckt. R=2 bedeutet, dass sich die Zahl der Infizierten verdoppelt. Wenn R kleiner als 1 ist, so heißt das, dass die Epidemie zu Ende geht.
Ende Februar bis Anfang März war die Corona-Welle in Deutschland voll unterwegs. Da war R sogar kurz größer als 3.



Interessant ist der Einfluss der Maßnahmen, die gesetzt wurden:
Am 9.3. wurden alle Veranstaltungen von mehr als 1000 Teilnehmern abgesagt. Das war exakt die Zeit, als die Corona-Verbreitung ihren Höhepunkt erreichte.
Kurz danach fiel die Kurve steil ab.
Die Absage der Großveranstaltungen konnte darauf jedoch keinen Einfluss haben, weil der Zeitraum viel zu kurz war.

Nun fiel also die Kurve runter auf R=1.
Und dann erst - viel später am 23. März - wurde der Lockdown mit all den scharfen Maßnahmen verkündet.
Seither fällt die Kurve nicht mehr, sondern bleibt ziemlich stabil auf R=1 und leicht darunter.
Das RKI erklärt das u.a. mit der ständig zunehmenden Menge an Tests, die seither durchgeführt wurden und der Schwierigkeit, das mathematisch korrekt einzuordnen.

Doch eines geht klar aus der Studie des RKI hervor: Die Epidemie hat in Deutschland ihren Höhepunkt von Anfang bis Mitte März erreicht.
Der Lockdown - am 23. März - kam viel zu spät, um etwas zu bewirken. Das war eine Maßnahme, die im Nachhinein gesetzt wurde. Sie war eine gut gemeinte Reaktion auf die Krise, hatte aber kaum einen messbaren Effekt auf den Ablauf der Epidemie.

Denselben Trend haben unabhängig davon Experten der österreichischen AGES ermittelt. 
Auch wenn Österreich den Lockdown am 16. März – eine Woche früher als Deutschland – umgesetzt hat, fiel er mitten in den bereits bestehenden Abwärtstrend der Infektions-Kurve und hat diese nicht beeinflusst.

Experten rätseln über die Ursachen für den Abfall der Kurve. Lag es doch an der Absage der Großveranstaltungen, an der reduzierten Mobilität, am vielen Händewaschen? 

Oder hat der Frühling mit den höheren Temperaturen und dem geringeren Erkältungsrisiko den Abfall bewirkt?
Sehen wir uns mal an, wie die verschiedenen Viren normalerweise über den Jahreslauf verteilt sind. Hier eine Übersicht aus einem Standardwerk zum Auftreten der Erkältungsviren in der nördlichen Hälfte der Erdkugel:

Mit Ende April geht die Coronaviren-Saison normalerweise zu Ende. 
Geht sie heuer nur deshalb zu Ende, weil Maßnahmen gesetzt wurden? (Quelle)

Was wenn tatsächlich alles ganz anders war? Und nun – abgesehen von der medial verstärkten Krise in den Hot Spots – ein stinknormaler Winter mit einer ganz durchschnittlichen Winter-Übersterblichkeit zu Ende geht.
Und was, wenn die Sonne mit den höheren Temperaturen den Coronaviren den Garaus macht, so wie jedes Jahr - und besser als das alle Lockdown-Maßnahmen können.

Was nun in den kommenden Wochen folgt, wird entscheidend sein für die Aufarbeitung dieser globalen Krise. Kritische, möglichst objektive, unabhängige Wissenschaft wird – im Zusammenspiel mit einer seriösen medialen Aufarbeitung – den Ausschlag geben, ob es gelingt, die richtigen Lehren zu ziehen. Was uns jetzt nämlich droht ist der Rechtfertigungs-Schwall der Regierungen und ihrer behördlichen und wissenschaftlichen Berater. Sie haben wenig Interesse daran, dass sich heraus stellt, dass viele der Maßnahmen übertrieben waren. Sie möchten sich feiern lassen, als Retter vor den Viren, die jede einzelne Milliarde wohl überlegt in den Schutz der Bevölkerung investiert haben.

Doch ich will hier gar keine Schuldfrage anzetteln.
Wir haben als weltweite Community eine bisher noch nie da gewesene Erfahrung gemacht. Das müssen wir seriös aufarbeiten, um daraus zu lernen. Und das bedeutet sicherlich nicht, dass wir jetzt alle angstvoll auf die Einführung einer Corona-Schutzimpfung warten. Denn das durchbricht die Angstlogik nicht. Und schon bald würde darauf der nächste Lockdown folgen, weil das Viren-Tracking natürlich nicht aufhört. Und wer suchet, der findet sofort wieder etwas, vor dem man sich fürchten kann.
Und das wäre doch sehr sehr schade, wenn wir vor lauter Virenangst nicht mehr zu unserem "alten Leben" zurück kehren können: zu den Konzerten, den Fußball-Matches, den ausgelassenen Tänzen.


Mittwoch, 15. April 2020

Corona-Krise: Sonderwege, Zufälle und öffentliche Inszenierung

Die einen legen unter medialem Beifall das öffentliche Leben lahm - und improvisieren beim Schutz der Risikogruppen. Andere riskieren höhere Infektionsraten, um damit eine Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen. Es gibt nur eine Möglichkeit, sich vor der Corona-Krise zu schützen, sagt Anders Tegnell, der Architekt des schwedischen Sonderwegs und das ist die Immunität. Entweder man wartet 18 Monate auf eine Impfung - oder "die Menschen stecken sich an und werden wieder gesund." – Wer hat das bessere Rezept im Umgang mit den Coronaviren? 

Schweden setzt auf den Schutz der Risikogruppen - und lehnt den Lockdown ab (Foto: Jernej Furman)

Zwischen Belgien und den Niederlanden gab es viel böses Blut, weil die Holländer lange Zeit Veranstaltungen erlaubten und Geschäfte offen ließen. Belgien war hingegen unter den ersten EU-Ländern, die rigide Maßnahmen umgesetzt haben. Beide Länder sind etwa gleich dicht besiedelt. Beide hatten lange Zeit ähnliche Infektionsraten.
Wie ist es aber nun zu erklären, dass Belgien mit heutigem Stand 4.440 Corona-Todesfälle hat und die Niederlande weniger als 3.000?
Die Antwort liegt wohl im Übergreifen der Epidemie auf die Alten- und Pflegeheime. Von dort stammen nämlich 40% der belgischen Todesfälle. Das ist ein im internationalen Vergleich sehr hoher Anteil. Und es zeigt sich, was man eigentlich schon von Beginn an - von den chinesischen Erfahrungen her - wusste: Dass es in erster Linie drauf an kommt, diese Einrichtungen vor einem Übergreifen der Infektion zu schützen.

Insofern finde ich es einigermaßen spät, dass von Seiten der österreichischen Regierung "für die Zeit nach Ostern" ein Testschwerpunkt für die Alters- und Pflegeheime angekündigt wurde.
Man legt Mitte März ein ganzes Land still - um die Risikogruppe der chronisch Kranken und Hochbetagten zu schützen. Und Mitte April kommt man auf die Idee, dass es nun an der Zeit wäre, sich verstärkt den Heimen zu widmen.
Hätte man das nicht bereits ein Monat früher wissen können?
Oder ging es damals in erster Linie darum, Maßnahmen zu setzen, die jede Bürgerin / jeder Bürger sofort spürt. Damit deutlich wird, dass die Regierung entschlossen und handlungsstark ist und rasch etwas tut. Ob das auch sinnvoll ist, was getan wird, war wohl zweitrangig. Was zählte waren publikumswirksam im TV moderierte Sofortmaßnahmen.

Ich weiß aus persönlichen Kontakten, wie unterversorgt viele Heime mit Mundschutz & Co. waren. Wie sehr hier gewurschtelt und improvisiert werden musste. Wie kompliziert es war und wie lang es gedauert hat, bis Verdachtsfälle getestet werden konnten. Wie sich die Pfleger dann mit den "Risiko-Klienten" geplagt haben - und selbst keine Ahnung hatten, ob sie oder andere Kollegen nicht auch bereits längst infiziert waren.
Wie sehr es demnach pures Glück war, dass wir keine ähnlich hohe Infektionsrate wie Belgien oder Italien hatten.

Mehr und mehr zeigt sich, dass es wohl auf die unbemerkt abgelaufene Basis-Infektion in der Bevölkerung ankam, ob die Corona-Krise mehr oder weniger hart zugeschlagen hat. Das geschah Wochen oder Monate bevor überhaupt irgendwelche Maßnahmen gesetzt werden konnten - weil niemand ahnte, was im Stillen vor sich geht.
Und das wurde begünstigt, wenn dicht bevölkerte Ballungsräume zuerst infiziert wurden.
Und dann ging alles sehr schnell, als die Epidemie-Kurve anstieg und sichtbar wurde. Plötzlich überschwemmte eine Lawine an schwer kranken Menschen, binnen kurzer Zeit die Kliniken und löste in den Zentren der Epidemie das bekannte Katastrophen-Szenario aus.

Ob Schulen und Geschäfte etwas früher, oder später oder gar nicht geschlossen wurden, machte dabei weit weniger aus, als wir annehmen. Dies zeigt der Vergleich von Belgien und den Niederlanden - und auch der Verlauf der Infektionswelle in Großbritannien oder in Frankreich. Das unterscheidet sich nicht wesentlich. Wer annimmt, dass die Norweger oder die Österreicher klüger als die Spanier und die Franzosen wären oder die Süditaliener disziplinierter als die Norditaliener - wie das Ärztekammer-Präsident Thomas Szekeres kürzlich bei "Talk im Hangar" verlautbarte, macht sich und anderen etwas vor.

Am wichtigsten war wohl in erster Linie der Schutz bzw. Selbstschutz der Risikogruppen. Und ob es gelungen ist, die Viren aus den Alten- und Pflegeheimen, sowie bestimmten Krankenhaus-Abteilungen heraus zu halten.
In manchen Ländern ist das besser gelungen - teils durch gezielte Maßnahmen, teils durch pures Glück.

Jetzt wird es wärmer. Erkältungsviren klingen langsam ab. Wenn wir den Schutz der Risikogruppen hoch halten - wäre es eine gute Idee, die Kinder – nach dem Vorbild von Schweden – jetzt wieder in die Schulen und Kindergärten zu schicken. Damit sie dort noch Kontakt mit den Viren machen und immun werden.
Jedes immune Kind und jeder immune Erwachsene bildet im nächsten Winter, wenn die Viren wieder kommen, ein Schutzschild für die bedrohten Mitmenschen. Und verhindert ein neuerliches Aufflackern dieser Epidemie.

Montag, 6. April 2020

Coronaviren: Langsame Rückkehr zur Normalität

Die Zeichen mehren sich, dass der Höhepunkt der Corona-Krise überschritten ist. Deutlich früher als von vielen akademischen Reitern der Apokalypse erwartet, weisen die Zahlen der Neuinfektionen und Verstorbenen in Richtung eines Abklingens der Epidemie. Nun bleibt die Frage zu klären, was eigentlich konkret passiert ist. 
Und somit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie hoch der Beitrag der Isolations-Maßnahmen zur Bewältigung der Krise war und wie rasch diese nun aufgehoben werden können.  

Handelte es sich - wie Kritiker der "Corona-Hysterie" meinen, um ein neuartiges aber ansonsten ganz normales Virus, das unter dem Vergrößerungsglas der PCR-Tests und der enormen medialen Aufmerksamkeit zu einem Gespenst aufgeblasen wurde? - Oder war es tatsächlich eine unabwendbare Natur-Katastrophe, die ähnlich einem Tsunami die Welt überrollte - und damit den größten Einbruch der Weltwirtschaft seit 1945 ausgelöst hat.
Dies wäre unbedingt und ohne Rücksichten aufzuklären. Denn davon hängt es auch ab, ob wir in Zeiten des immer intensiver werdenden Viren-Trackings künftig alle paar Jahre ähnliche Zustände erleben.



Accessoir des Jahres 2020: Schutzmasken (c: FolsomNatural)
Millionenfach wurden in den letzten Wochen Artikel des Bloggers Tomas Pueyo geteilt, in denen er den Politikern nahelegt zu handeln. Sie müssten, schreibt er, den Hammer drastischer Maßnahmen schwingen, damit wir danach den Tanz der Erleichterung zelebrieren können ("Der Hammer und der Tanz"). Pueyo beschreibt, dass die Länder genau eine einzige Möglichkeit haben, um den Zusammenbruch der Gesundheitssysteme zu verhindern: "Entweder kämpfen sie jetzt hart, oder sie werden eine massive Epidemie erleiden." Wenn sie nicht drastische Maßnahmen setzen, "werden Hunderttausende sterben. In einigen Ländern Millionen."

Er argumentiert, dass es in China durch massive Maßnahmen zur Unterdrückung der Virus-Weitergabe gelungen ist, die Epidemie in den Griff zu bekommen. Es wäre demnach heller Wahnsinn, diesem Beispiel nicht zu folgen.
Sein Szenario für die USA klingt wie die Apokalypse: 75% der Bevölkerung infizieren sich, von ihnen sterben 4%, weil das Gesundheitssystem überfordert ist. "Das ist ungefähr das 25-fache der Zahl der US-Toten im 2. Weltkrieg."
Falls die Sterberate nur bei 0,6% liegen sollte - weil 75% der Infizierten keine Symptome zeigen und deshalb von den Tests nicht erfasst würden - ginge die Sache etwas glimpflicher aus - dennoch wären immer noch 500.000 Todesfälle zu erwarten.
Ähnliche Zahlen gelten für Europa.
Natürlich hat Pueyo – ein erfolgreicher Software-Entwickler und Unternehmer – diese Zahlen nicht selbst erfunden. Er zitiert zur Untermauerung seiner Angaben die Arbeiten angesehener Experten. Um dieses Horrorszenario zu verhindern, gäbe es nur einen einzigen Weg: Jenen der bestmöglichen Unterdrückung ("Suppression") der Weitergabe der Viren.


Wer bekämpft die Viren richtig hart?

Pueyo skizzierte mit seinen Artikeln eine "neue Normalität", die nach und nach umgesetzt wurde: Mit den bekannten Einschränkungen des Privat- und Berufslebens: mit "Homeoffice", Ausgeh- und Versammlungs-Verboten, geschlossenen Schulen und Geschäften. Die Länder überboten sich gegenseitig in der Schärfe ihrer Maßnahmen.
Doch einige Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder Schweden versuchten zunächst den weniger strikten Weg der "Mitigation". Damit ist die Minderung der Viren-Übertragung gemeint - im Wesentlichen durch den Schutz bzw. die Isolation der Risikogruppen sowie den freiwilligen Hausarrest von Menschen mit Krankheitssymptomen. Gleichzeitig sollten nach dieser Strategie aber Schulen und Kindergärten sowie die meisten Geschäfte offenbleiben, damit jene, die ein geringes Risiko haben, sich infizieren und in der Folge immun werden. Solcherart wäre dann auf Dauer ein Großteil der Bevölkerung immun - und damit auch die Risikogruppen in Sicherheit.

Großbritannien stand von Beginn an unter heftiger Kritik. Mehr als 200 Wissenschaftler unterzeichneten einen Appell, schleunigst auf den Weg der "Suppression" umzusteigen. Ein Bericht des Imperial College London prognostizierte eine halbe Million Todesopfer. Als dann auch noch die Fallzahlen kräftig anstiegen, wurde es Boris Johnson zu heiß und er änderte radikal die britische Corona-Strategie. Die Fallzahlen stiegen zwar auch in anderen Ländern, wo die "Suppression" durchgesetzt wurde, doch Johnson kämpfte hier bereits um sein politisches Überleben und hielt dem Druck nicht mehr stand.
Dasselbe geschah - mit Abstrichen - in den Niederlanden, obwohl hier im Vergleich zum extrem strengen Nachbarland Belgien viele Geschäfte offen blieben.
In Schweden sind - zumindest zum heutigen Tag - hingegen noch immer fast alle Schulen (für Schüler unter 16 Jahren) und Kindergärten, sowie Gasthäuser, Geschäfte und Grenzen offen. Damit steht Schweden nun exponiert mit seiner Strategie und allein unter heftiger Kritik. Laufend müssen sich schwedische Politiker und Behörden den teils recht aggressiv vorgetragenen Fragen der Weltpresse - sowie der internationalen Virologen-Community stellen.
Am Sonntag sagte Schwedens führender Epidemiologe Anders Tegnell, dass es Zeichen gebe, dass der Ausbruch bald den Höhepunkt erreicht hat und die Kurve der Neuinfektionen flacher wird - speziell in der Hauptstadt-Region um Stockholm.


Spielen die Maßnahmen überhaupt eine Rolle?

Ich habe hier einige europäische Länder mit ähnlicher Bevölkerungsgröße verglichen. Obwohl die Schweiz eines der ersten Länder war, das Veranstaltungen abgesagt und Schulen geschlossen hat, führt es die Liste der COVID-19 Fälle an. Belgien und die Niederlande - Nachbarn, die sich für unterschiedliche Strategien entschieden hatten, unterscheiden sich in den Auswirkungen kaum. Und das "offene" Schweden liegt ebenso weit unten, wie Tschechien, das in der EU als eines der ersten die Grenzen zu Nachbarländern geschlossen hat.  Österreich, das eine sehr restriktive Politik fährt, rangiert im Mittelfeld.
Bei derartigen Kurven ist immer mit zu bedenken, dass die Kurve gar nicht fallen kann, weil die Zahlen hier kumulativ angegeben werden.



Auch wenn die Zahlen nicht kumulativ angeführt werden, sondern nach neuen Fällen pro Tag, ergibt sich ein ähnliches Bild. 



Und hier nun die aktuellen Zahlen, die Hoffnung machen, dass der Spuk bald ein Ende hat.
Die weltweit erhobene Zahl der Todesfälle mit positivem Corona-Befund scheint den Gipfel erreicht zu haben.

Hier die Trends aus den am stärksten betroffenen Ländern Europas: Spanien, Italien und Frankreich: 



Der Wachstums-Faktor schwächt sich deutlich ab. Ein Wert unter eins bedeutet ein Schrumpfen der Fallzahlen. 

Natürlich bedeutet das noch nicht die endgültige Entwarnung. Es ist ein Hoffnungs-Schimmer. Doch allemal geben diese Zahlen weitere Rätsel auf. Denn was ist nun eigentlich passiert?
Wie war es möglich, dass in Italien, Frankreich und Spanien so derart katastrophale Zustände herrschen, während andere Länder offenbar glimpflicher davon kommen. Und zwar weitgehend unabhängig davon, ob aggressive oder weniger aggressive Maßnahmen verhängt werden.
Die Aufklärung dieses Rätsels ist von immenser Bedeutung. Denn eines ist klar: Wenn die aggressive Unterdrückung der Infektion sich als Königsweg erweist, so wird der öffentliche Druck groß sein, bei nächster Gelegenheit dieselben – oder noch drakonischere – Maßnahmen einzusetzen.

"Wenn die Epidemie abgeklungen ist, wird sich eine Schlange von Menschen bilden, die dafür die Lorbeeren einstreifen wollen. – Aber vergessen Sie dabei nicht den Witz über die Tiger", schreibt der dänische Wissenschaftler Peter Gøtzsche in seinem Artikel "Eine Epidemie der Massen-Panik".
Der Tiger-Witz geht so:
"Warum bläst du denn ständig in die Trompete?" – "Um die Tiger fernzuhalten." – "Aber hier sind doch gar keine Tiger" – "Na, siehst du, es wirkt!"


Die Sache mit den Schutzmasken

Unbestritten ist die Gefährlichkeit der neuartigen Coronaviren für ältere Personen mit Vorerkrankungen. Eine von den italienischen Behörden kürzlich veröffentlichte Analyse der Todesfälle ergab ein Durchschnittsalter von 79,5 Jahren. Nur fünf Menschen waren unter 40 Jahre, alle waren krank, ehe sie sich mit dem Virus infizierten. 70 Prozent der Opfer sind Männer. Drei Personen ( 0,8 Prozent) starben offenbar ausschließlich "am" Coronavirus - "ohne wenn und aber", wie die Italiener sagen. Alle anderen litten an mindestens einer schweren Vorerkrankung.

Die Risikogruppe war also von Beginn an klar definiert. Es galt in erster Linie die Alten- und Pflegeheime, sowie die mit alten Patienten frequentierten Krankenhaus-Abteilungen zu schützen. Denn dort sind die Hotspots, aus denen die Überlastung des Gesundheitssystems resultiert. Wenn sich in diesen Einrichtungen die Infektion verbreitet, beginnt der Zustrom zu den Intensivstationen. Von dort kommen die Patienten, die den Betrieb lahm legen. Dort besteht das höchste Sterberisiko.

Zu einem Zeitpunkt, als Länder wie Österreich oder Deutschland ihr Sozial- und Wirtschaftsleben weitgehend still legten, fehlte es aber vollständig an einer klaren Strategie zum Schutz dieser Risikogruppen. Es gab weder genug Schutzkleidung noch Masken, noch einheitliche Richtlinien für deren Anwendung. Weder wurden die Angestellten routinemäßig getestet, noch funktionierte die Isolation der infizierten Senioren. Viele der Schutzmasken waren zudem vor allem darauf ausgerichtet, jene zu schützen, die sie trugen. Die Atemluft der Ärzte und Pfleger strömte ungefiltert in die Umgebung.
Es ist also weitgehend ein Wunder, dass sich bisher keine größeren Epidemien in diesen Einrichtungen ausgebreitet haben und für ähnliche Sterbezahlen sorgen wie in Italien oder Spanien.

Von einem Tag auf den anderen wurde die Wirtschaft lahm gelegt. Es bildete sich ein Heer von Arbeitslosen, unzählige Menschen sind in ihrer Existenz bedroht. Viele Milliarden Euro müssen aus dem Steuertopf bezahlt werden. Was hier angerichtet wurde, ist in den Konsequenzen überhaupt noch nicht absehbar.
Doch ob sich die Pflegeheime und Krankenanstalten in tödliche Infektionsherde verwandeln, das war mehr oder weniger Glückssache. Opa und Oma, für deren Schutz das Katastrophen-Szenario in erster Linie veranstaltet wurde, waren dem vollen Infektionsrisiko ausgesetzt.


Lehren aus der Krise

Nun verhält sich die Epidemie also, wie sich Epidemien verhalten. Solange empfängliche Personen rundum sind, breiten sich die Viren mit enormer Geschwindigkeit aus. Wenn dann in den Zentren der Infektion die Zahl der immunen Menschen steigt, wirkt das wie eine unsichtbare Mauer und die Epidemie stürzt - so schnell wie sie gekommen ist - in sich zusammen.

Das Immunsystem der weitaus meisten Menschen hatte keine Probleme mit den Viren. Ein Teil entwickelte die üblichen Symptome eines grippalen Infekts, die Mehrzahl wurde immun - ohne jegliche Anzeichen von Krankheit. Doch die Viren gaben sie weiter. Und eine spezielle Risikogruppe – eben die viel zitierten alten Menschen mit Vorerkrankungen – war besonders gefährdet. "Bei diesen Patienten scheint die Krankheit eine zweite Phase einzulegen", beschrieb das Phänomen ein italienischer Intensivmediziner, dessen Namen ich mir leider nicht gemerkt habe. "Während die einen über dem Berg sind, gibt es hier eine zweite Phase, in der das Immunsystem massiv die Lungen attackiert."

Wir haben diese neuartigen Coronaviren erst am Höhepunkt der Epidemie in Wuhan bemerkt. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren sie aber bereits Monate davor in Umlauf. Auch aus Oberitalien gab es laut Giuseppe Remuzzi, Direktor des Mario-Negri-Instituts für Pharmakologische Forschung in Mailand, bereits im November 2019 Berichte über "eine Häufung von ungewöhnlich verlaufenden Lungenentzündungen".
Es fällt uns generell schwer, eine solche Krankheit mit dem Verstand zu begreifen, weil wir den Viren immer hinterher sind. Es dauert im Schnitt drei bis vier Wochen von der Infektion bis zu den Spätfolgen mit Lungenentzündung und Lebensgefahr. Deshalb erleben wir die Sterbezahlen, die viele von uns gebannt auf Worldometers.info , ourworldindata.org oder euromomo.eu verfolgen, mit einer enormen Verzögerung. Diese Zahlen haben jedoch wenig zu tun mit den aktuellen Quarantäne-Maßnahmen, weil ihr Ursprung großteils in der Zeit vor dem Lockdown liegt.

Was nehmen wir nun mit aus diesem "Corona-Frühling" und seinem Wahrzeichen, der Schutzmaske?
"Das Wort von jedem Menschenleben, das zählt, ist ja sehr freundlich und human und im Prinzip stimme ich dem zu", schreibt der deutsche Psychologe, Philosoph und Gesundheitswissenschaftler Harald Walach. "Aber im Moment wird es so interpretiert, als müsse man jeden Tod immer und um jeden Preis vermeiden."
Walach kritisiert die unbedingte Konzentration auf das eine Virus - als gebe es plötzlich keine anderen gesundheitlichen Probleme oder Todesfälle mehr. "Man sollte den Leuten sagen: Ja, es werden Leute an dieser Infektion sterben. Das ist gar nicht vermeidbar. Sie sterben auch an Grippe, an gebrochenen Herzen, an Einsamkeit, an Verzweiflung, nur findet man dann keinen Virus und zählt sie nicht jeden Tag im Fernsehen. Aber man sollte auch sagen, daß das höchstwahrscheinlich nicht mehr sein werden, als wir es von anderen Infektionskrankheiten kennen."