Wer wissen möchte, was genau mit der "Hygienefalle" und dem "Krieg gegen Viren und Bakterien" gemeint ist: Hier ist das Vorwort zu meinem neuen Buch.
Auf die Idee zu diesem Buch kam ich im Frühling 2014 während eines
Gesprächs, das ich mit Erika von Mutius führte, der deutschen
Allergieforscherin und Mitbegründerin der so genannten Hygiene-Hypothese. Wir sprachen
über die Entdeckung des menschlichen Mikrobioms, jener unglaublich vielfältigen
Gemeinschaft an Mikroben, die auf und in uns gedeiht und mit uns lebt.
Jeder Mensch ist ein riesiger Zoo und beherbergt eine Artenvielfalt,
die an jene der Regenwälder des Amazonas erinnert. Wir wissen heute, dass wir
in unserem eigenen Körper in der Minderzahl sind – und zwar gewaltig. Auf jede
einzelne Zelle unseres Körpers kommen zehn Zellen von Mitbewohnern. Auf jedes
einzelne Gen unseres Erbgutes kommen hundertfünfzig nicht menschliche Gene. Und
sie alle spielen mit im Konzert unseres Lebens.
Wir setzen gerade die ersten Schritte in diesen neuen Kosmos, machen
die ersten Entdeckungen und staunen wie bedeutsam der Einfluss der Mikroben für
alles ist, was uns als Menschen ausmacht.
Im Laufe der Evolution haben sich unzählige Symbiosen zum gegenseitigen
Vorteil entwickelt: Manche der Bakterien erzeugen lebenswichtige Vitamine,
andere schließen die Nahrung auf und machen Spurenelemente verfügbar. Sie
mischen kräftig mit bei der Steuerung unseres Essverhaltens und beeinflussen
sogar unserer Laune, indem sie im Darm Glückshormone erzeugen. Wenn es unseren
Bakterien gut geht, geht es auch uns gut.
Die drei Säulen der Gesundheit
Die drei Säulen der Gesundheit
Die Gemeinschaft dieser Mikroben steht zudem in enger Verbindung mit unserem Schutzengel, dem Immunsystem, mit dem es sich im Verlauf der Evolution des Lebens parallel entwickelt hat. Die beiden kennen sich aus Urzeiten als es noch keine Menschen, ja noch nicht einmal Säugetiere gab. Und beide zusammen, das Immunsystem und das Mikrobiom, beeinflussen unser Gehirn, unser Nervensystem – also das, was unser Ich und unsere Persönlichkeit ausmacht.
Auf diesen drei Säulen – Nervensystem, Immunsystem und Mikrobiom – beruht
die Stabilität unserer Gesundheit. Sie sind alte Freunde und kommunizieren
unentwegt – während wir essen, arbeiten oder lieben. Speziell wenn wir lieben: Vom ersten Kuss,
den Verliebte einander schenken, tauschen sie auch ihre Mikroben aus, passt
sich ihr Immunsystem aneinander an, tauchen sie ein in den Geruch ihrer Körper,
der auch wieder von Bakterien erzeugt wird. Mikroben schaffen Beziehungen.
„Bisher“, sagte Erika von Mutius in unserem Gespräch, „haben wir in der
Medizin immer nach Risikofaktoren gesucht. Doch durch die Mikrobiomforschung
sehen wir jetzt, dass es bei Gesundheit nicht um Risikovermeidung, sondern viel
mehr um Gleichgewichte und Symbiosen geht.“
In diesem locker ausgesprochenen Gedanken, das wurde mir in dem Moment
schlagartig klar, liegt ein Potenzial, das die Medizin und unser Verständnis
von Gesundheit von Grund auf verändern kann. Sollte es möglich sein, dass wir lernen
unseren Selbstheilungskräften zu vertrauen statt zu intervenieren? Dass wir
unser Mikrobiom hegen und pflegen, statt es wahllos umzupflügen und zurechtzustutzen?
Dass wir banale Infekte zulassen, ohne das Immunsystem mit allen möglichen
Interventionen in seiner Arbeit zu behindern? Dass wir Symbiosen hüten und auf Gleichgewichte achten?
Sollte diese revolutionäre Umkehr möglich sein, so wäre das wie ein
Tauwetter nach einer langen Phase des Krieges. Während des letzten Jahrhunderts
haben wir vor allem gekämpft: gegen Infekte, gegen Krankheiten, gegen
„feindliche Bakterien und Viren“.
Doch wohin hat uns dieser Kampf geführt? Viele Menschen müssen das
gerade leidvoll erfahren:
In den USA sind in der Generation der unter 18-jährigen die gesunden
Kinder und Jugendlichen bereits in der Minderzahl. Und die Welle chronischer
Krankheiten schwappt immer mehr auch nach Europa über. Alle zehn Jahre
verdoppelt sich die Anzahl der Kinder, die an Diabetes leiden. Asthma ist
bereits zur Volkskrankheit geworden. Jede dritte Familie hat mindestens ein
Mitglied mit Allergien oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Die Kurven bei
Multipler Sklerose, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und Autismus –
alles Störungen, die noch vor wenigen Jahrzehnten exotisch waren – zeigen steil
nach oben.
Und immer deutlicher zeigt sich, dass es nicht die Überalterung der
Bevölkerung ist, welche die Budgets der Sozialstaaten an den Rand des Kollapses
bringt, sondern die Last der chronischen, unheilbaren Krankheiten. Trotz aller
Hygiene, trotz aller Arztbesuche, Früherkennungs- und Vorsorgeprogramme.
Gefangen in der Hygienefalle
Gefangen in der Hygienefalle
Die Prinzipien der Hygiene umzusetzen, war eine der segensreichsten Leistungen unserer Zivilisation. Die Zeit der Seuchen war damit vorüber. Doch offenbar haben wir die Sache gewaltig übertrieben. Wir haben eine an sich hervorragende Idee derart auf die Spitze getrieben, dass sich der einstige positive Effekt in sein Gegenteil verkehrt hat.
Moderne Hygienebestimmungen
gefährden die Gesundheit, statt sie zu bewahren. Dank immer schärferer
bürokratischer Vorschriften ist Hygiene heute in vielen Bereichen zu Sterilität
pervertiert. Obst und Gemüse wird in Folien gepresst, Trinkwasser chloriert,
Rohmilch gilt als gemeingefährlich, kein Stückchen Erde klebt an Radieschen
oder den strahlend orangen Karotten im Supermarkt. Überall blitzt es vor
Sauberkeit – man könnte vom Boden essen.
Stück für Stück hat sich bei uns ein Lebensstil durchgesetzt, der die
biologischen Bedürfnisse unseres Körpers missachtet und der menschlichen Natur
zuwiderläuft. Wir versuchen die Mikroben, die uns umgeben, zu beseitigen und
auszurotten. Dabei übersehen wir, dass wir selbst aus Mikroben bestehen.
Das gilt auch für viele Interventionen der „modernen Medizin“. Statt
Abläufe im Körper zu unterstützen, stören sie Symbiosen und gefährden das
Gleichgewicht unserer drei Gesundheitssäulen.
Das beginnt bei der Geburt, die schon bei jeder dritten Schwangeren per
Kaiserschnitt erfolgt – statt mit den guten Bakterien der Mutter werden diese
Babys zuerst mit Keimen besiedelt, die sie wahllos im Kreißsaal auflesen
Weiter geht es beim Kinderarzt: Von Anfang an sind Babys und Kleinkinder
während der sensibelsten Phase ihrer Entwicklung einer ganzen Lawine von
Eingriffen ausgesetzt: Antibiotika-Kuren, die „zur Sicherheit“ verabreicht
werden, die aber nicht nur krank machende Bakterien bekämpfen, sondern auch zu
einem Kahlschlag im gerade entstehenden Mikrobiom führen. Fiebersenker und
Entzündungshemmer, die die natürlichen Regulative des kindlichen Organismus
aushebeln. Eine Unzahl von Impfungen, die das Immunsystem künstlich aggressiv
machen – und all das während der sensibelsten Phase der kindlichen Entwicklung.
Strategien der Angstmacher
Strategien der Angstmacher
Prävention, wie wir sie heute verstehen, hat oft mehr mit Präventivschlag zu tun als mit achtsamer Vorsorge. Überall sind wir noch konfrontiert mit Denkmustern, die ihren Ursprung tief im finsteren 20. Jahrhundert haben: im allzu simplen, schwarz-weißen Weltbild der Mikrobenjäger, die im Endsieg gegen feindliche Keime die Voraussetzung für Gesundheit sahen.
Natürlich lässt sich ein simples Weltbild viel einfacher vermitteln als
komplexe Zusammenhänge. Und es lässt sich auch viel besser vermarkten: Es
müssen nur Ängste geschürt und dann einfache Lösungen angeboten werden. Für
jedes Risiko gibt es einen Test, eine Therapie, eine Pille. Wir sind – inmitten
der längsten Friedenszeiten, die wir jemals in Mitteleuropa erlebt haben – zu
einer überängstlichen Gesellschaft geworden. Der Medizinmarkt gehört zu den
mächtigsten Wirtschaftszweigen. Angefeuert von den Strategen der
Pharmaindustrie, welche Gesundheitspolitik und Behörden hilflos vor sich her
treiben.
Unsere Gesellschaft hat der Industrie die medizinische Wissenschaft
überlassen und auf unabhängige öffentliche Kontrolle fast vollständig
verzichtet. Heute sehen wir das Resultat dieser Politik: eine Bevölkerung, die
auf die Bedürfnisse der Wirtschaft hin optimiert ist und von der Wiege bis zur
Bahre Therapien braucht – vom Kaiserschnitt bis zur finalen Chemotherapie.
Ob es gelingt, dass wir uns aus diesem Geflecht an Interessen und fest
gefahrenen Einstellungen befreien, ist eine spannende Frage.
Derzeit sieht es nicht so aus.
Aber machen Sie sich selbst ein Bild.
"Die Hygienefalle", das neue Buch von Bert Ehgartner ist ab 9. November 2015 im Buchhandel erhältlich. Besorgen Sie sich bitte das Buch in Ihrer Lieblingsbuchhandlung. Alternativ zu Amazon & Co. können Sie das Buch auch direkt beim Verlag Ennsthaler bestellen.