Donnerstag, 6. August 2009
Reform im Schwarzen Loch
Vor vier Jahren wurde die Gesundenuntersuchung reformiert. Die gesetzlich vorgesehene wissenschaftliche Bewertung ihres Nutzens ist jedoch bis heute ausständig.
Etwa 800.000 Österreicher gehen jedes Jahr zur Gesundenuntersuchung. Die Kosten dafür liegen bei rund 70 Millionen Euro. Im Herbst 2005 präsentierte die damalige Gesundheitsministerin Maria Rauch-Kallat die Reform des seit der Einführung im Jahr 1974 nahezu unveränderten Programms. Dabei wurden einige der Tests, die sich im Lauf der Jahre angesammelt hatten, entrümpelt, weil deren Nutzen laut internationaler wissenschaftlicher Evidenz bei Routine-Untersuchungen an Gesunden nicht erwiesen ist. Beispielsweise das Belastungs-EKG. Andere Tests blieben, nach heftiger Gegenwehr der Ärztevertreter im Programm. Sie sollten aber laufend evaluiert und nach spätestens zwei Jahren entfernt werden, wenn sich – wie zu erwarten war – kein Nutzen zeigt. In diese Kategorie fällt ein Test auf Leberwerte, ein Harnstreifentest bei Jüngeren und das so genannte „rote Blutbild“ bei Frauen. Bei diesen Tests besteht die Gefahr, dass sie häufig Fehlalarm mit kostspieligen und für die Betroffenen Nerven aufreibenden Nachfolge Untersuchungen auslösen. Die Leberwerte werden hingegen oft erst auffällig, wenn bereits ein Schaden eingetreten ist. „Dadurch“, erklärt der Vorsorge-Experte Franz Piribauer, der im Hauptverband für die wissenschaftliche Begleitung der Reform zuständig war. „werden Menschen mit problematischem Alkoholkonsum viel zu lange im Glauben gelassen, dass alles in Ordnung ist.“
Erstmals wurde auch vermehrter Wert auf Lebensstil-Beratung über gesunde Ernährung, Abnehmen, Alkohol-, oder Raucherentwöhnung gelegt und dies den Ärzten auch mit insgesamt knapp 70 Euro honoriert. Doch ob sie dies in der Praxis auch tun, ob die empfohlenen Maßnahmen greifen und ob die Menschen in Summe von der Gesundenuntersuchung profitieren, weiß man heute genau so wenig wie vor 35 Jahren. Zunächst funktionierte die Weitergabe der Daten nicht. Dies besserte sich erst, als die Abrechnung der Untersuchung mit dem Eingang des Dokumentations-Bogens verknüpft wurde. Nun spießt es sich wiederum an der Zuverlässigkeit der Befund-Daten und der fehlenden Verknüpfung mit Nachfolge-Untersuchungen. In einer jüngst präsentierten Zwischenbilanz hieß es deshalb: „Klare Aussagen zu direktem Nutzen bzw. Schaden der Vorsorgeuntersuchung sind nicht möglich.“
Als bislang aussagekräftigste Untersuchung gilt deshalb ein vom Verein für Konsumenteninformation (VKI) in Kooperation mit dem Hauptverband organisierter Test, bei dem zwei in ihren Krankengeschichten „präparierte“ Patienten bei 21 Wiener Ärzten eine Vorsorge-Untersuchung absolvierten. „Erfreulich war, dass der Großteil der Ärzte sich viel Zeit für das Abschlussgespräch nahm“, fasst Bärbel Klepp, die Projektleiterin des VKI, die Ergebnisse zusammen. „Erschreckend schlecht war in Einzelfällen jedoch die Dokumentation der Ergebnisse.“ Da wurde die Raucherin mehrfach als Nichtraucherin angekreuzt und dem männlichen Probanden eine „auf eigenen Wunsch durchgeführte“ Aufklärung über Prostatakrebs eingetragen, obwohl der Mann nach einer Operation gar keine Prostata mehr hat. „Hier muss sich noch einiges bessern“, sagt Klepp. „Denn so macht eine wissenschaftliche Auswertung wenig Sinn.“
Dieser Artikel ist im Rahmen der profil-Titelstory vom 3. August als Infokasten erschienen.
Dienstag, 4. August 2009
„Keine Ausreden auf die Gene“
Der Wiener Medizinökonom Ernest G. Pichlbauer plädiert für Bonus-Malus-Systeme, um im Gesundheitssystem Kosten einzusparen.
profil: Soll man Patienten bestrafen, die trotz Warnungen weiterhin ungesund leben, indem sie etwa auf notwendig gewordene Operationen länger warten müssen, so wie dies kürzlich der Präsident der deutschen Ärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe vorgeschlagen hat?
Pichlbauer: Belohnungs- und Bestrafungssysteme funktionieren nur dann, wenn sie wirklich unmittelbar ansetzen. Und zwar in dem Moment, wenn etwas festgestellt wirst. Wenn man zum Arzt geht und man hat vereinbarte Ziele nicht erreicht – man hat nicht aufgehört zu rauchen, nicht abgenommen, etc. - dann würde der Selbstbehalt sofort höher, man hätte eine Strafe zu zahlen, oder bekäme keinen Bonus. So wie beim wahrscheinlich erfolgreichsten Präventionsmodell, der Mutter-Kind-Pass Untersuchung. Die arbeitete mit einem Belohnungs-Anreiz. Solche Modelle muss man natürlich immer wieder evaluieren, nachjustieren, sehen ob die gewünschte Steuerung auch greift.
profil: Und jemand zu bestrafen, wenn etwa die Hüftoperation schon ansteht?
Pichlbauer: Das bringt nichts, weil der Mensch dann ja nichts mehr machen kann. Auch wenn es diesem Patienten zehn Jahre lang gesagt wurde. Dann ist es zu spät. Ganz anders wäre es, wenn man jemand, der auf eine künstliche Hüfte wartet, zum Abnehmen rät. Das ist der englische Weg. Da kriegst Du Deine Hüfte nur, wenn Du beispielsweise den Body-Mass-Index von 30 auf 27 reduzierst. Und das ist wiederum wirksam, weil hier der Patient aktiv eingreifen kann. Es muss die Betroffenheit erzeugt werden, sonst passiert eine Änderung nicht. Der Patient muss das verstehen und sich selbst entscheiden.
profil: Drängt man dadurch die Ärzte nicht in eine Rolle, wo sie die Patienten als eine Art Gesundheitspolizisten strafen oder verpfeifen müssen?
Pichlbauer: Diese Gefahr sehe ich nicht, weil es sich dabei ja um Programme der öffentlichen Versorgung handelt. Arzt und Patient wären hier Partner. Patienten müssen zum Koproduzenten ihrer Gesundheit werden, sonst funktioniert das überhaupt nicht. Und wenn sie sich nicht daran halten, so ist es nicht eine Strafe durch den Arzt, sondern ein selbst gewählter Weg. Die Ziele müssen vorher bekannt sein: Wer zur Vorsorgeuntersuchung geht, bekommt beispielsweise 50 Euro. Und wenn beim nächsten Termin die gesetzten Gesundheits-Ziele nicht erfüllt werden, so gibt es weniger oder gar nichts mehr. Mit so einer Maßnahme erreicht man zudem gut die niederen sozialen Schichten, wo laut Statistiken ein schlechteres Gesundheitsbewusstsein herrscht. Hier könnten sich die Leute über gesunde Lebensweise quasi ein Zusatzeinkommen schaffen, und das erzeugt Betroffenheit.
profil: Wie reagieren denn Politiker auf derartige Vorschläge?
Pichlbauer: Den meisten ist das viel zu heikel. Weil ja sofort die Totschlagargumente kommen, dass damit Kranke bestraft werden und Ärzte sich hier nicht einspannen lassen wollen. In Wahrheit ist diese Haltung extrem bevormundend, weil sie Patienten ja gar nicht zutrauen, dass sie selbst Koproduzenten ihrer Gesundheit werden. Prävention funktioniert nur dann, wenn die Patienten selbst begreifen, dass sie ihre Gesundheit mitbestimmen können.
profil: Aber es ist doch auch bevormundend, wenn ich den Menschen suggeriere, ich weiß, was für sie gut ist und gebe Ihnen von außen Ziele vor?
Pichlbauer: Man braucht natürlich eine gute Datenbasis. Bei den Hüften weiß man etwa aus Studien, dass bei dicken Menschen die Hüften schlechter einwachsen und häufiger Komplikationen auftreten. Damit steigen auch die Behandlungskosten. Abzunehmen ist also für beide Seiten ein Gewinn.
profil: Weiß die Wissenschaft überhaupt, wie man wirksam Krankheiten vermeidet?
Pichlbauer: Bei den Zivilisationskrankheiten gibt es tatsächlich recht wenig brauchbare Studien, weil sich diese Krankheits-Prozesse ja über viele Jahre hinziehen und es Jahrzehnte dauern würde, bis man zu einer Entscheidung kommt. Dass Bewegung nützlich ist, bezweifelt kaum jemand, aber sogar hier ist die Beweislage dünn. Also muss man auch irgendwann die Eier haben, sich etwas zu trauen und hier Maßnahmen setzen. Selbstverständlich mit einer gut geplanten wissenschaftlichen Begleitung. Das setzt auch den Mut voraus, dass man Programme stoppt, wenn sich der gewünschte Effekt nicht einstellt.
profil: Bei welchen Krankheiten würden Sie solche Programme einführen?
Pichlbauer: Nur bei den großen Volkskrankheiten wie Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes, COPD.
profil: Und wenn jemand deshalb so dick ist, weil z.B. eine Stoffwechselerkrankung vorliegt.
Pichlbauer: Ausnahmen müssen natürlich im Programm genau beschrieben sein.
profil: Man wird also nicht für seine schwachen Gene bestraft?
Pichlbauer: Doch. Da würde ich keine generellen Ausnahmen machen. Denn wer schwache Gene hat, hat halt Pech gehabt und muss eben eine höhere Selbstdisziplin an den Tag legen. Sicher ist das ungerecht, manche müssen sich eben mehr, manche weniger anstrengen um das gleiche zu erreichen. Ausreden auf die Gene würde ich nicht einfach erlauben.
Dr. Ernest G. Pichlbauer, 40, arbeitete, bevor er sich der Gesundheitsversorgungsforschung zuwandte, als Pathologe am Wiener AKH. Während seiner Zeit am ÖBIG war er unter anderem an den Arbeiten zum Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) beteiligt Seit 2008 ist er unabhängiger Berater und Publizist. In seinem Buch „Gesunde Zukunft“ (Edition Steinbauer, 2007) lieferte er „Diskussionsgrundlagen zu neuen Strategien im Gesundheitswesen“.
Pichlbauer ist Vater eines Sohnes (2) und mit einer Spitalsärztin verheiratet
Dieses Interview erschien im Rahmen der Titelgeschichte "Der Vorsorge-Wahn" in der Zeitschrift profil (in leicht gekürzter Fassung)
profil: Soll man Patienten bestrafen, die trotz Warnungen weiterhin ungesund leben, indem sie etwa auf notwendig gewordene Operationen länger warten müssen, so wie dies kürzlich der Präsident der deutschen Ärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe vorgeschlagen hat?
Pichlbauer: Belohnungs- und Bestrafungssysteme funktionieren nur dann, wenn sie wirklich unmittelbar ansetzen. Und zwar in dem Moment, wenn etwas festgestellt wirst. Wenn man zum Arzt geht und man hat vereinbarte Ziele nicht erreicht – man hat nicht aufgehört zu rauchen, nicht abgenommen, etc. - dann würde der Selbstbehalt sofort höher, man hätte eine Strafe zu zahlen, oder bekäme keinen Bonus. So wie beim wahrscheinlich erfolgreichsten Präventionsmodell, der Mutter-Kind-Pass Untersuchung. Die arbeitete mit einem Belohnungs-Anreiz. Solche Modelle muss man natürlich immer wieder evaluieren, nachjustieren, sehen ob die gewünschte Steuerung auch greift.
profil: Und jemand zu bestrafen, wenn etwa die Hüftoperation schon ansteht?
Pichlbauer: Das bringt nichts, weil der Mensch dann ja nichts mehr machen kann. Auch wenn es diesem Patienten zehn Jahre lang gesagt wurde. Dann ist es zu spät. Ganz anders wäre es, wenn man jemand, der auf eine künstliche Hüfte wartet, zum Abnehmen rät. Das ist der englische Weg. Da kriegst Du Deine Hüfte nur, wenn Du beispielsweise den Body-Mass-Index von 30 auf 27 reduzierst. Und das ist wiederum wirksam, weil hier der Patient aktiv eingreifen kann. Es muss die Betroffenheit erzeugt werden, sonst passiert eine Änderung nicht. Der Patient muss das verstehen und sich selbst entscheiden.
profil: Drängt man dadurch die Ärzte nicht in eine Rolle, wo sie die Patienten als eine Art Gesundheitspolizisten strafen oder verpfeifen müssen?
Pichlbauer: Diese Gefahr sehe ich nicht, weil es sich dabei ja um Programme der öffentlichen Versorgung handelt. Arzt und Patient wären hier Partner. Patienten müssen zum Koproduzenten ihrer Gesundheit werden, sonst funktioniert das überhaupt nicht. Und wenn sie sich nicht daran halten, so ist es nicht eine Strafe durch den Arzt, sondern ein selbst gewählter Weg. Die Ziele müssen vorher bekannt sein: Wer zur Vorsorgeuntersuchung geht, bekommt beispielsweise 50 Euro. Und wenn beim nächsten Termin die gesetzten Gesundheits-Ziele nicht erfüllt werden, so gibt es weniger oder gar nichts mehr. Mit so einer Maßnahme erreicht man zudem gut die niederen sozialen Schichten, wo laut Statistiken ein schlechteres Gesundheitsbewusstsein herrscht. Hier könnten sich die Leute über gesunde Lebensweise quasi ein Zusatzeinkommen schaffen, und das erzeugt Betroffenheit.
profil: Wie reagieren denn Politiker auf derartige Vorschläge?
Pichlbauer: Den meisten ist das viel zu heikel. Weil ja sofort die Totschlagargumente kommen, dass damit Kranke bestraft werden und Ärzte sich hier nicht einspannen lassen wollen. In Wahrheit ist diese Haltung extrem bevormundend, weil sie Patienten ja gar nicht zutrauen, dass sie selbst Koproduzenten ihrer Gesundheit werden. Prävention funktioniert nur dann, wenn die Patienten selbst begreifen, dass sie ihre Gesundheit mitbestimmen können.
profil: Aber es ist doch auch bevormundend, wenn ich den Menschen suggeriere, ich weiß, was für sie gut ist und gebe Ihnen von außen Ziele vor?
Pichlbauer: Man braucht natürlich eine gute Datenbasis. Bei den Hüften weiß man etwa aus Studien, dass bei dicken Menschen die Hüften schlechter einwachsen und häufiger Komplikationen auftreten. Damit steigen auch die Behandlungskosten. Abzunehmen ist also für beide Seiten ein Gewinn.
profil: Weiß die Wissenschaft überhaupt, wie man wirksam Krankheiten vermeidet?
Pichlbauer: Bei den Zivilisationskrankheiten gibt es tatsächlich recht wenig brauchbare Studien, weil sich diese Krankheits-Prozesse ja über viele Jahre hinziehen und es Jahrzehnte dauern würde, bis man zu einer Entscheidung kommt. Dass Bewegung nützlich ist, bezweifelt kaum jemand, aber sogar hier ist die Beweislage dünn. Also muss man auch irgendwann die Eier haben, sich etwas zu trauen und hier Maßnahmen setzen. Selbstverständlich mit einer gut geplanten wissenschaftlichen Begleitung. Das setzt auch den Mut voraus, dass man Programme stoppt, wenn sich der gewünschte Effekt nicht einstellt.
profil: Bei welchen Krankheiten würden Sie solche Programme einführen?
Pichlbauer: Nur bei den großen Volkskrankheiten wie Adipositas, Bluthochdruck, Diabetes, COPD.
profil: Und wenn jemand deshalb so dick ist, weil z.B. eine Stoffwechselerkrankung vorliegt.
Pichlbauer: Ausnahmen müssen natürlich im Programm genau beschrieben sein.
profil: Man wird also nicht für seine schwachen Gene bestraft?
Pichlbauer: Doch. Da würde ich keine generellen Ausnahmen machen. Denn wer schwache Gene hat, hat halt Pech gehabt und muss eben eine höhere Selbstdisziplin an den Tag legen. Sicher ist das ungerecht, manche müssen sich eben mehr, manche weniger anstrengen um das gleiche zu erreichen. Ausreden auf die Gene würde ich nicht einfach erlauben.
Dr. Ernest G. Pichlbauer, 40, arbeitete, bevor er sich der Gesundheitsversorgungsforschung zuwandte, als Pathologe am Wiener AKH. Während seiner Zeit am ÖBIG war er unter anderem an den Arbeiten zum Österreichischen Strukturplan Gesundheit (ÖSG) beteiligt Seit 2008 ist er unabhängiger Berater und Publizist. In seinem Buch „Gesunde Zukunft“ (Edition Steinbauer, 2007) lieferte er „Diskussionsgrundlagen zu neuen Strategien im Gesundheitswesen“.
Pichlbauer ist Vater eines Sohnes (2) und mit einer Spitalsärztin verheiratet
Dieses Interview erschien im Rahmen der Titelgeschichte "Der Vorsorge-Wahn" in der Zeitschrift profil (in leicht gekürzter Fassung)
Montag, 3. August 2009
„Freiheit zum ungesunden Leben“
Im aktuellen Profil erschien heute meine Cover-Geschichte "Der Vorsorge-Wahn". Da online nur der Haupttext verfügbar ist, bringe ich hier ergänzend das zur Story gehörende Interview mit dem Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz:
profil: Sie behaupten, dass wir heute im Zeitalter einer real existierenden Gesundheitsreligion leben. Was meinen Sie damit genau?
Lütz: Die Leute glauben heute vielfach nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit, und alles, was man früher für den lieben Gott tat - Wallfahrten, Fasten, usw. - das tut man heute dafür. Es gibt Leute, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Gesundheit gilt nicht mehr als Göttergeschenk, sondern, wie alles in unserer Gesellschaft, als herstellbares Produkt: Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres und - sterben dann doch.
profil: Gesundheitsökonomen argumentieren damit, dass ungesunder Lebensstil die Solidargemeinschaft schädigt, weil alle die Kosten dafür tragen müssen.
Lütz: Das ist ja gar nicht belegt. Wenn ein starker Raucher mit 41 am Bronchialkarzinom stirbt, verursacht das weniger Kosten, weil der die ganzen Alterskrankheiten und den Pflegeaufwand nicht mehr hat. Man möchte die Bürger zwingen, gesund zu sein. Und deshalb gibt es diese ganzen Vorschriften. Doch Schritt für Schritt werden wir durch die Gesundheitsreligion unserer Freiheit beraubt. Vor 70 Jahren gab es Blockwarte, die feststellten, ob die Umgebung auch noch die braune Gesinnung hatte. Wenn die Gesundheitsreligion Staatsreligion wird, womit ich täglich rechne, werden wir Blockwarte von den Krankenkassen bekommen, die achten, ob geraucht wird oder ob die Leute auch Sport betreiben. Die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist aber immer auch die Freiheit zum ungesunden Leben.
profil: Den Menschen wird geraten, sie sollen nicht übergewichtig sein und sie sollen sich mehr bewegen. Das ist doch berechtigt.
Lütz: Aber machen Sie das mal, wenn Sie die falschen Eltern haben. Wir können durch gesundheitsbewussten Lebens herzlich wenig ausrichten. Die Gnade der Gene ist im Vergleich doch viel wichtiger. Wenn ihre Eltern sehr alt geworden sind, haben sie ungerechterweise sehr gute Chancen, ebenfalls alt zu werden, egal wie Sie leben.
profil: Der alten Weisheit „Vorbeugen ist besser als heilen“ können Sie also wenig abgewinnen?
Lütz: Das Problem dabei ist: Man möchte gute Werke tun, aber man weiß in der Gesundheitsreligion gar nicht so genau, was die guten Werke sind. Es gibt etwa überhaupt keinen Beweis, dass die Diäten wirken. Einmal heißt es mehr Kohlenhydrate, dann wieder gar keine. Die WHO hat eine Gesundheits-Definition in die Welt gesetzt, die vollends utopisch ist: Gesundheit sei völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Es ist klar, dass das niemals erreichbar ist. Aber ein unerreichbares Ziel, das zugleich zum höchsten erklärt wird, ist ökonomisch natürlich interessant. Und so boomt die Gesundheitswirtschaft wie keine andere Sparte. In der Tat werden hier auch die tollsten Erfindungen gemacht. Der Ehrgeiz aller Tüchtigen konzentriert sich darauf, hier immer den letzten Schrei zu produzieren.
profil: Insgesamt werden wir aber unbestritten älter denn jemals zuvor in der Geschichte.
Lütz: Ja, vielleicht nach den nackten Jahreszahlen. Subjektiv lebten die Menschen im Mittelalter aber wesentlich länger. Sie hatten ihre diesseitige Lebenszeit plus das ewige Leben. Für sie war psychologisch tatsächlich der Tod ein Durchgang. Und heute ist das Leben zusammengeschnurrt auf diese kurze Lebenszeit und es herrscht Nervosität im Wartesaal des Todes. Alle paar Jahre gibt es inzwischen Todes-Kampagnen. Man munkelt, dass alle sterben werden, an Vogel- oder Schweinegrippe oder am Rinderwahn.
profil: Wer steckt denn hinter dieser Angstmache. Wie hoch bemessen Sie etwa den Einfluss der Pharmaindustrie?
Lütz: Wir dürfen nicht immer Sündenböcke suchen. Wenn wir uns als Gesellschaft ein unerreichbares und zugleich sakrales Ziel setzen, so ist klar, dass Menschen, die wirtschaftlich denken, da auch Profit daraus schlagen wollen.
profil: Das heißt, wir müssen uns in unserer Erwartungshaltung selber am Schopf packen?
Lütz: So ist es. Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Debatte über die Wertigkeit der Gesundheit, sonst ist ernsthafte Gesundheitspolitik ja gar nicht mehr möglich. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut jedoch kann man gar nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun – oder es wenigstens behaupten.
Manfred Lütz, 55, ist Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, sowie katholischer Theologe. Er arbeitet als Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln und ist Autor mehrerer Bestseller („Lebenslust - Über Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswahns“ Droemer/Knaur, 2006, „Gott: Eine kleine Geschichte des Größten“, 2009). Im September erscheint sein neues Buch „Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ im Gütersloher Verlagshaus.
profil: Sie behaupten, dass wir heute im Zeitalter einer real existierenden Gesundheitsreligion leben. Was meinen Sie damit genau?
Lütz: Die Leute glauben heute vielfach nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit, und alles, was man früher für den lieben Gott tat - Wallfahrten, Fasten, usw. - das tut man heute dafür. Es gibt Leute, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Gesundheit gilt nicht mehr als Göttergeschenk, sondern, wie alles in unserer Gesellschaft, als herstellbares Produkt: Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres und - sterben dann doch.
profil: Gesundheitsökonomen argumentieren damit, dass ungesunder Lebensstil die Solidargemeinschaft schädigt, weil alle die Kosten dafür tragen müssen.
Lütz: Das ist ja gar nicht belegt. Wenn ein starker Raucher mit 41 am Bronchialkarzinom stirbt, verursacht das weniger Kosten, weil der die ganzen Alterskrankheiten und den Pflegeaufwand nicht mehr hat. Man möchte die Bürger zwingen, gesund zu sein. Und deshalb gibt es diese ganzen Vorschriften. Doch Schritt für Schritt werden wir durch die Gesundheitsreligion unserer Freiheit beraubt. Vor 70 Jahren gab es Blockwarte, die feststellten, ob die Umgebung auch noch die braune Gesinnung hatte. Wenn die Gesundheitsreligion Staatsreligion wird, womit ich täglich rechne, werden wir Blockwarte von den Krankenkassen bekommen, die achten, ob geraucht wird oder ob die Leute auch Sport betreiben. Die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist aber immer auch die Freiheit zum ungesunden Leben.
profil: Den Menschen wird geraten, sie sollen nicht übergewichtig sein und sie sollen sich mehr bewegen. Das ist doch berechtigt.
Lütz: Aber machen Sie das mal, wenn Sie die falschen Eltern haben. Wir können durch gesundheitsbewussten Lebens herzlich wenig ausrichten. Die Gnade der Gene ist im Vergleich doch viel wichtiger. Wenn ihre Eltern sehr alt geworden sind, haben sie ungerechterweise sehr gute Chancen, ebenfalls alt zu werden, egal wie Sie leben.
profil: Der alten Weisheit „Vorbeugen ist besser als heilen“ können Sie also wenig abgewinnen?
Lütz: Das Problem dabei ist: Man möchte gute Werke tun, aber man weiß in der Gesundheitsreligion gar nicht so genau, was die guten Werke sind. Es gibt etwa überhaupt keinen Beweis, dass die Diäten wirken. Einmal heißt es mehr Kohlenhydrate, dann wieder gar keine. Die WHO hat eine Gesundheits-Definition in die Welt gesetzt, die vollends utopisch ist: Gesundheit sei völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Es ist klar, dass das niemals erreichbar ist. Aber ein unerreichbares Ziel, das zugleich zum höchsten erklärt wird, ist ökonomisch natürlich interessant. Und so boomt die Gesundheitswirtschaft wie keine andere Sparte. In der Tat werden hier auch die tollsten Erfindungen gemacht. Der Ehrgeiz aller Tüchtigen konzentriert sich darauf, hier immer den letzten Schrei zu produzieren.
profil: Insgesamt werden wir aber unbestritten älter denn jemals zuvor in der Geschichte.
Lütz: Ja, vielleicht nach den nackten Jahreszahlen. Subjektiv lebten die Menschen im Mittelalter aber wesentlich länger. Sie hatten ihre diesseitige Lebenszeit plus das ewige Leben. Für sie war psychologisch tatsächlich der Tod ein Durchgang. Und heute ist das Leben zusammengeschnurrt auf diese kurze Lebenszeit und es herrscht Nervosität im Wartesaal des Todes. Alle paar Jahre gibt es inzwischen Todes-Kampagnen. Man munkelt, dass alle sterben werden, an Vogel- oder Schweinegrippe oder am Rinderwahn.
profil: Wer steckt denn hinter dieser Angstmache. Wie hoch bemessen Sie etwa den Einfluss der Pharmaindustrie?
Lütz: Wir dürfen nicht immer Sündenböcke suchen. Wenn wir uns als Gesellschaft ein unerreichbares und zugleich sakrales Ziel setzen, so ist klar, dass Menschen, die wirtschaftlich denken, da auch Profit daraus schlagen wollen.
profil: Das heißt, wir müssen uns in unserer Erwartungshaltung selber am Schopf packen?
Lütz: So ist es. Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Debatte über die Wertigkeit der Gesundheit, sonst ist ernsthafte Gesundheitspolitik ja gar nicht mehr möglich. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut jedoch kann man gar nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun – oder es wenigstens behaupten.
Manfred Lütz, 55, ist Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, sowie katholischer Theologe. Er arbeitet als Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln und ist Autor mehrerer Bestseller („Lebenslust - Über Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswahns“ Droemer/Knaur, 2006, „Gott: Eine kleine Geschichte des Größten“, 2009). Im September erscheint sein neues Buch „Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ im Gütersloher Verlagshaus.
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