Die Ärzte haben als Advokaten ihrer Patienten versagt. Sie hätten warnen und hinterfragen müssen – und nicht alles willfährig übernehmen, was ihnen von der Industrie vorgelegt wird. Es ist schon unsere Verantwortung als Ärzte, dass wir nicht Medikamente verschreiben, die unsere Patienten schädigen oder sogar umbringen könnten.
Dieses Zitat stammt aus einem Interview, das ich zum Thema mit dem Grazer Diabetologen Thomas Pieber geführt habe. Er zeichnet darin ein alarmierendes Bild seiner eigenen Fachdisziplin. Die Gefahr der lebensgefährliche Unterzuckerung durch die "gute Einstellung der Diabetiker" hätte schon viel früher erkannt werden müssen, kritisiert er. Viele führende Diabetologen hätten sich aber eher als Pillenverkäufer im Auftrag der pharmazeutischen Industrie gesehen, für die möglichst niedrige Zielwerte beim Blutzucker natürlich ein gutes Geschäft darstelle.
Hier das vollständige Interview mit Prof. Thomas Pieber.
Ehgartner: In den letzten Monaten sind gleich drei große Studien erschienen, die den Wert der Blutzuckersenkung kräftig erschüttern. Welche Bedeutung haben diese Resultate nun im klinischen Alltag bei der Behandlung von Diabetikern?
Pieber: : Es ist nach wie vor notwendig, Diabetiker zu behandeln. Der zentrale Streitpunkt ist die Einstellung des Blutzuckerwertes. Die große Mehrheit der Diabetologen meint, dass der Mittelwert des Blutzuckers, das HbA1c, das alles Entscheidende sei und mit allen Mitteln gesenkt werden muss, je niedriger desto besser.
Ehgartner: War denn die wissenschaftliche Basis dafür so eindeutig?
Pieber: : Eben überhaupt nicht. Die wissenschaftlichen Grundlagen für dieses Konzept fehlen. Diabetiker mit niedrigerem Blutzucker haben zwar eine bessere Prognose, die Frage ist allerdings, warum diese Patienten so gut einzustellen sind. Das ist wissenschaftlich nicht unwesentlich. Denn vielleicht haben sie einfach eine leichtere Form des Diabetes. Dann wäre es nur logisch, dass diese Personen auch weniger Komplikationen haben. Und bei den Patienten mit schwerer Verlaufsform würde es auch nichts helfen, wenn ich den Blutzuckerwert mit vielen Medikamenten mit Gewalt senke. Das Weltbild, das trotzdem den Blutzuckerwert alleine in den Mittelpunkt rückt, war halt auch im Interesse der Industrie.
Ehgartner: Mit Hilfe von Medikamenten eine Volkskrankheit zu behandeln, ist kein schlechtes Geschäft.
Pieber: : Ja, die pharmazeutische Industrie hat uns aus ihren Forschungen immer diese Rückmeldung gegeben Der Blutzucker ist entscheidend. Wenn ich mir die Studienergebnisse des vergangenen Jahres ansehe, so kann man nun sagen: Das stimmt eindeutig nicht, und das scheint jetzt aufgrund der vorliegenden Studienergebnisse endgültig zu sein.
Ehgartner: Es geht also eher um die Frage, wie der Zucker ins Blut kommt.
Pieber: : Medikamente ersetzen keinen gesunden Lebensstil. Das ist eben der große Unterschied. Im Vergleich zu dem, was wir für die Medikamente ausgeben, investieren wir in Wahrheit nur sehr wenig in das Ziel, durch gesunde Ernährung und Bewegung gar nicht erst zuckerkrank zu werden. Das ist leider mühsam und anstrengend und kann nicht so einfach verordnet werden. Da hilft kein Schimpfen und Drohen, das funktioniert nicht. Obwohl wir das schon seit 20 Jahren wissen, gibt es kaum Forschung nach alternativen Strategien. Körpergewicht zu reduzieren ist schwierig und die Leute wirksam zur Bewegung zu animieren auch. Die Bemühungen waren nicht ausreichend, auch weil sich alle darauf verlassen haben, dass die Medikamente schon ihren Zweck erfüllen.
Ehgartner: Wäre es als Diabetes-Experte nicht möglich gewesen, viel früher drauf zu kommen, dass der Hase falsch läuft?
Pieber: : Es gab schon in den 70er und 90er Jahren große Untersuchungen, die gezeigt haben, dass das ganze Konzept nicht stimmt. Wenn man sie kritisch gelesen hat, wusste man längst, dass die Tabletten das Problem nicht lösen. Nun haben wir in der ACCORD-Studie gesehen, dass die Wahrscheinlichkeit zu sterben sogar steigt, wenn ein Patient mit den verfügbaren Medikamenten scharf eingestellt wird. Und zwar steigt das Risiko gleich um 22 Prozent! Jetzt haben wir ein Ergebnis, das so eindeutig ist, dass allen klar sein muss: so geht es nicht!
Ehgartner: Diese Entwicklung erinnert sehr an den Irrweg der Hormonersatz-Therapie. Seit nicht mehr an fast alle Frauen ab der Menopause Hormonpillen verschrieben werden, gehen erstmals sogar die Brustkrebs-Zahlen stark zurück. Steht nun bei Diabetes ein ähnlich radikaler Kurswechsel bevor?
Pieber: : Ja eindeutig. Die Blutzucker-zentrische Sichtweise des Diabetes ist eine Sackgasse. Wenn nur eine einzige Studie dagegen sprechen würde, so könnte man noch argumentieren, dass dies ein Ausreißer ist. Aber es gibt noch zwei weitere Studien, die ebenfalls keinen Nutzen der medikamentösen Zuckersenkung zeigen. Warum muss ich die Leute also mit allen möglichen Medikamenten so streng einstellen, wenn es ihnen eigentlich nichts bringt. Stattdessen beginnen jetzt die Diabetes-Experten, an den Resultaten herumzudoktern und behaupten – genau wie vor ein paar Jahren die Hormonpäpste – dass die Pillen schon ihren guten Zweck haben und dass nur die Studien total schlecht wären.
Ehgartner: Schlechte Ergebnisse zeigten sich speziell, wenn mehrere Diabetes-Medikamente kombiniert wurden. Waren diese Kombinationen eigentlich erprobt?
Pieber: : Nein. Man ist immer davon ausgegangen, dass die positiven Aspekte der Tabletten sich addieren. Es hat niemand darüber nachgedacht, dass es auch umgekehrt sein könnte. Neben Unterzuckerung und Gewichtszunahme. sind die negativen Effekte im Detail noch gar nicht bekannt.
Ehgartner: Welche Verantwortung trifft hier die Ärzte?
Pieber: : Das ist das Dilemma in der Diabetologie. Die Ärzte haben als Advokaten ihrer Patienten versagt. Sie hätten warnen und hinterfragen müssen – und nicht alles willfährig übernehmen, was ihnen von der Industrie vorgelegt wird. Es ist schon unsere Verantwortung als Ärzte, dass wir nicht Medikamente- verschreiben, die unsere Patienten schädigen oder sogar umbringen könnten. Als Diabetesexperten und Universitätsprofessoren haben wir entsprechende Untersuchungen nicht vehement genug eingefordert. Die Zulassungsbehörden hören bei dieser Frage natürlich sehr stark auf die Meinung der Mediziner. Und wenn von dort keine Warnung oder Skepsis kommt, so wird das auch nicht in den Zulassungsanforderungen enthalten sein.
Ehgartner: Wie sieht es denn nun aus mit der Kehrtwende? Wann werden denn die Diabetes-Leitlinien geändert?
Pieber: : Wäre bei den Studien raus gekommen, dass ein ganz niedriger Blutzuckerwert tatsächlich nützlich ist, wäre es innerhalb von Wochen zu einer Verschärfung in diese Richtung gekommen. Umgekehrt ist eine beinahe gespenstische Ruhe eingekehrt. Fast ein Jahr nach Erscheinen von ACCORD gibt es meines Wissens noch keine einzige Leitlinie, die auf das neue Wissen reagierte. Niemand rückt bis jetzt von den extrem niedrig angesetzten Zielwerten ab. Auch in Österreich nicht. Und niemand informiert die praktischen Ärzte.
Ehgartner: Soll man denn künftig vermitteln, dass hohe Zuckerwerte okay sind?
Pieber: : Nein, hohe Zuckerwerte sind nicht okay, wenn die Diabetiker Symptome aufweisen. Aber wenn ich einen Patienten betreue, der seit zehn Jahren an Diabetes leidet, aber relativ beschwerdefrei ist, und dessen Blutzuckerdauerwert bei 8,0 steht, so muss in den Leitlinien stehen, dass es keine wissenschaftliche Basis dafür gibt, dass die medikamentöse Absenkung dieses Zuckerwertes dem Patienten nützt. Und das betrifft Insulin genauso wie Insulinanaloga oder die oralen Antidiabetika.
Wir sollten endlich darüber diskutieren, dass wir jene Risikofaktoren ernst nehmen, mit denen wir nachweislich die Prognose günstig beeinflussen können Zum Beispiel sollten wir bei allen unseren Diabetikern den Blutdruck besser einstellen, da hängen tausende Menschenleben dran.
Thomas Pieber, 48 ist Vorstand der klinischen Abteilung für Endokrinologie und Nuklearmedizin der Medizinischen Universität Graz. Er war bis 2006 im Vorstand der Europäischen Diabetesgesellschaft (EASD) und war Präsident der EASD-Jahrestagung 2009.
Das Gespräch führte Bert Ehgartner (eine gekürzte Version dieses Gesprächs ist im Nachrichtenmagazin Profil vom 10. 4. 2009 im Rahmen der Coverstory „Nutzlose Medizin“ erschienen). Wenn Ihnen dieser Artikel gefallen hat, würden
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