Montag, 1. November 2010

"Vakzinologie ist kein Penny Markt"

Eigentlich sind Streptokokken ganz normale Mitbewohner am Menschen: rundliche, grampositive Bakterien, die etwa ein Tausendstel Millimeter messen und sich bevorzugt in Ketten anordnen. Zum Beispiel in der Mundhöhle, auf den Schleimhäuten des Rachens oder in der Flora des Darms. Solange die Streptokokken an ihrem Platz bleiben sind sie nützliche Mitglieder der Bakteriengesellschaft. Medizinisch werden sie etwa zur Vorsorge gegen Paradontose eingesetzt oder als Kultur zum Wiederaufbau der Darmflora nach Antibiotika- oder Pilzbehandlung. Böse können die Folgen jedoch sein, wenn Streptokokken zu wandern beginnen und Organe befallen. Berühmt-berüchtigt ist die etwa 90 Serotypen zählende Untergruppe S. pneumoniae. Diese "Pneumokokken" gehören zu den bedeutsamsten Krankheitserregern des Menschen. Sie verursachen unter anderem Pneumonie (Lungenentzündung), Otitis Media (Mittelohrentzündung) und Meningitis (Gehirnhautentzündung). Bereits vor mehr als 60 Jahren wurde ein Polysaccharid-Impfstoff auf den Markt gebracht, der auch heute noch für ältere Menschen empfohlen wird. Er besteht aus den unveränderten Zuckermolekülen der Kapsel und richtet sich gegen 23 Pneumokokken-Typen. Damit sollte er 90 Prozent der Erkrankungen abdecken. Bei Kindern, die noch keine Kontakte mit Pneumokokken hatten, ist der 23-valente Impfstoff jedoch unwirksam und auch sonst gilt er nicht gerade als Highlight. Erst im Vorjahr bescheinigte ihm eine Meta Analyse der vorhandenen Literatur, die von Wissenschaftlern der Universität Bern durchgeführt wurde „keinen Schutz vor Lungenentzündung“ und auch „keinen nachweisbaren Überlebensvorteil“ für die Geimpften.
Deutlich besser ist die Bilanz eines im Jahr 2000 in den USA (und 2001 in der EU) zugelassenen 7-valenten Konjugat-Impfstoffes, der für Säuglinge ab zwei Monaten, sowie Erwachsene ab 60 Jahren empfohlen wurde und heute in den meisten Ländern zu den obligaten Kinderimpfungen zählt. Bei diesem Impfstoff ist die Wirksamkeit verstärkt worden, indem die Polysaccharide der Bakterienkapsel an eine entgiftete Variante des Diphtherie-Proteins konjugiert wurden. Damit ließ sich nun auch bei Steptokokken-naiven Säuglingen eine Immunantwort auslösen. Bereits kurz nach der Einführung der Impfung in den USA zeigte sich eine Reduktion der invasiven Pneumokokken-Erkrankungen bei den Kindern um zwei Drittel.
Dieser Effekt hat sich in den letzten Jahren allerdings deutlich abgeschwächt, weil Erkrankungen durch nicht in der Impfung enthaltene Serotypen stark zugenommen haben. Diesem so genannten „Replacement-Effekt“ versuchen die Impfstoff-Hersteller nun damit zu begegnen, dass sie neue Produkte auf den Markt brachten, die nun gegen zehn, bzw. dreizehn Serotypen Schutz bieten. Für breite Impfkampagnen in Entwicklungsländern, wo Pneumokokken zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern zählen, sind diese Impfstoffe mit Verkaufspreisen jenseits von 200 US-Dollar jedoch viel zu teuer. Zudem unterscheiden sich die dort grassierenden Serotypen deutlich von der Verteilung in den Industrieländern.
Das Wiener Unternehmen Intercell, das sich - laut Firmen-Slogan auf die Entwicklung von "smart vaccines" spezialisiert hat, hat nun einen Impfstoff in Entwicklung, der gegen alle Pneumokokken-Stämme wirken soll.
Ich sprach darüber mit Intercell-Forschungsleiterin Eszter Nagy.


Bei Pneumokokken gibt es bereits einige Impfstoffe am Markt, die soeben noch einmal in einer verbesserten Version neu aufgelegt wurden. Was war für Sie als Forschungsleiterin von Intercell der Grund, ebenfalls auf diese Indikation zu setzen?

Nagy: An Pneumokokken Infektionen stirbt in Entwicklungsländer jedes sechste Kind. Diese Krankheit hat ein Ausmaß – vergleichbar der Malaria. Die bisherigen Impfstoffe schützen nur vor einem kleinen Teil dieser Bakterien. Wir haben eine Technologie entwickelt, mit deren Hilfe wir andere Angriffspunkte bei den Bakterien ausgewählt haben. Antigene, die vom Bakterium nicht verändert werden konnten, weil sie für den Lebenszyklus der Pneumokokken unbedingt notwendig sind. Deshalb sollte unser Impfstofff – von seinem Wirkprinzip her – vor allen 90 Pneumokokken-Typen schützen.

Wissen Sie bereits, ob er das auch tatsächlich tut?

Nagy: Bislang haben wir die Ergebnisse der ersten Studienphase. Bei Tests an 32 gesunden Erwachsenen erwies sich unser Impfstoff bislang als sicher und immunogen. Nun werden die größeren Zulassungsstudien in Afrika organisiert, in denen konkret die Wirksamkeit in Kindern getestet wird.

Die in Europa erhältlichen Impfstoffe sind unglaublich teuer. Der Marktführer ‚Prevenar 13’ kommt für die Grund-Immunisierung auf einen Preis von mehr als 300 Euro.

Nagy: Derzeit machen wir im Bereich der Vaccinologie gerade eine Revolution durch. Das war früher ein Penny-Markt, wo eine Impfung 50 Cents gekostet hat. Es kommen laufend unkonventionelle Produkte auf den Markt, allen voran die hochpreisige Impfung gegen Humane Papillomaviren, die Auslöser des Zervix-Karzinoms. Prevenar ist ebenso erfolgreich und enorm teuer.

Sollten diese Impfungen nicht vorwiegend in Entwicklungländern eingesetzt werden, wo die Krankheiten viel schwerwiegender sind?

Nagy: Ja, aber sie benötigen eine wesentlich billigere Alternative, sonst können das Entwicklungländer überhaupt nicht einsetzen. Der Impfstoff, den wir derzeit entwickeln wird billiger sein. Das heißt jetzt nicht, dass wir ihn in den Industrieländern um 50 Cents verkaufen. Die Produktionskosten liegen aber deutlich unter jenen der anderen Impfstoffe.

Wie sieht es denn mit Ihrem Zeitplan aus?

Nagy: Hier hängt vieles von unseren Partnern, etwa der internationalen Nonprofit-Organisation PATH, die durch die Bill Gates Foundation finanziert wird, ab. Es müssen Studien in Afrika organisiert werden um die Wirksamkeit bei einer hohen Erkrankungswahrscheinlichkeit zu messen. Nachdem wir die Sicherheitsdaten haben, können wir hier näheres sagen.

Auch einige andere Streptokokken können Krankheiten auslösen. Sind hier auch Impfstoffe in Arbeit?

Nagy: Ja, wir haben ein Projekt mit Streptokokkus pyogenes, das beim Menschen Scharlach und Mandelentzündungen auslösen kann. Mandelentzündungen sind keine tödliche Krankheit, aber die Ursache für 70 Prozent der Antibiotika-Verschreibungen bei Kindern, was in der Folge wieder zu Resistenzen führt. Ein anderes Streptokokken Projekt bezieht sich auf S. agalactiae, welches Sepsis in Neugeborenen verursachen kann, speziell bei Frühgeborenen. Hier wollen wir eine passive Immuntherapie entwickeln, wo wir frühgeborenen Babys monoklonale Antikörper verabreichen, präventiv.

Das klingt nach Produkten mit guten Marktchancen. Wozu braucht es da noch öffentliche Forschungs-Gelder wie im Rahmen des GEN-AU Projektes?

Nagy: Das Gen-AU Projekt war sehr experimentell als wir damit vor zwei Jahren begonnen haben. Wir hatten auch noch keine Partner an Bord. Dieses Förderungsprojekt half, die zelluläre Immunantwort auf die Pneumokokken-Antigene im Impfstoff zu erklären, und hat zahllose Daten generiert, die nun auf andere Programme angewendet werden können.

Sie sind im Jahr 1999 einer Einladung des Intercell Gründers Alexander von Gabain gefolgt und aus den USA nach Wien übersiedelt. Vermissen Sie die USA manchmal?

Nagy: Nein, gar nicht. Ich wollte mit meiner Familie immer in Europa leben. Außerdem haben wir bei Intercell ein sehr internationales Flair, der Job wirklich aufregend. Ich lebe wirklich gerne in Wien, liebe die sehr kosmopolitische Atmosphäre hier. Und nicht zuletzt freut es mich natürlich, dass mein Heimatland Ungarn so nahe gelegen ist.

Sie haben die Arbeit in der Impfstoff-Industrie einer universitären Karriere vorgezogen. Passierte das durch Zufall oder geplant?

Nagy: Es war wirklich eher Zufall. Aber ich profitiere sehr von meiner medizinischen und wissenschaftlichen Ausbildung. Die Vorteile, für ein privates Unternehmen zu arbeiten, liegen in der Chance, neue wissenschaftliche Erkenntnisse sehr rasch praktisch umzusetzen. Es ist für mich sehr motivierend, wenn ich über die Entwicklung neuer Medizinprodukte persönlich zur Verbesserung der Gesundheit der Menschen beitragen kann.

Eszter Nagy, MD, PhD,absolvierte ihr Studium der Medizin und der Molekularbiologie an der Universtiät Pecs und verbrachte fünf Jahre an verschiedenen Universitäten der USA. Zu Intercell kam sie 1999 auf Einladung des Intercell Gründers Alexander von Gabain. Seit 2005 leitet sie den gesamten Forschungsbereich mit derzeit rund 45 Wissenschaftlern. Eszter Nagy lebt mit Ihrer Familien in Wien. Ihr Sohn Bence, 18, beginnt gerade sein Medizin-Studium, Tochter Fanni, 15, besucht das Akademische Gymnasium. Ehemann Tamas Henics ist ebenfalls Mediziner und Wissenschaftler und wechselte im Juni von den Max Perutz Laboratories in Wien zu einem ungarischen Biotech-Unternehmen im Grenzbereich zu Österreich.

Dieses Interview erschien im Rahmen der "Serie Projektleiter" auf der Webseite von "GEN-AU" - Genomforschung in Österreich.

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