Sonntag, 15. November 2020

Des Kaisers neue Zahlen: Wie die COVID-Krise zum Selbstläufer wird

In Österreich wird ab Dienstag der bestehende Lockdown noch einmal dramatisch verschärft. Deutschland verfolgt diese Strategie mit Interesse, weil die Infektions-Zahlen trotz Maßnahmen auch hier stark ansteigen. Beiden Ländern gemein ist jedoch die Tatsache, dass die objektiven Zahlen derzeit gar keine Krise anzeigen.  In keinem der Länder gibt es Übersterblichkeit, die Belegzahlen der Krankenhäuser und auch der Intensivstationen sind im normalen Bereich. Würden wir nicht testen wie die Weltmeister - bekäme möglicherweise niemand etwas von einer Gesundheitskrise mit.

Doch wir testen nunmal - und insofern bietet sich ein katastrophales Bild. Das hier ist die Situation in Österreich, wie sie auf dem offiziellen Corona-Dashboard abzulesen ist:

Quelle: AGES (abgefragt am 15. 11.)

Wenn man diese Kurve auf sich wirken lässt, so wundert vor allem eines: Österreich ging im Frühjahr (siehe Mini-Hügel links) bei einer vergleichsweise winzigen Zahl an "Fällen" in den Lockdown – und befindet sich derzeit mit zehnmal so vielen Corona-Fällen offenbar inmitten einer gigantischen Bedrohungslage. 
Angesichts dieser Entwicklung gibt es nur zwei Deutungsmöglichkeiten:
1) Österreich steht kurz vor dem Kollaps – mit explodierenden Sterbezahlen – und die Regierung hat vollkommen recht uns in den Lockdown zu schicken. 
oder
2) Es gibt keine erhöhte Sterblichkeit.

Also sehen wir, welche Mortalität in Österreich während der letzten 20 Wochen – während des gigantischen Anstiegs der COVID-Fallzahlen – beobachtet wurde.
Wie viele andere Länder Europas meldet Österreich die aktuell erhobenen Sterbezahlen wöchentlich nach Dänemark, wo sie von den dortigen Behörden auf der Seite euromomo.eu veröffentlicht werden. 
Die blaue Linie zeigt, ob die Zahlen im normalen Bereich sind - ob sie eine kritische Marke übersteigen (rot gepunktete Linie) - oder ob sich die Sterbeziffern sogar unterhalb des Durchschnitts der letzten Jahre befinden.
Österreichs Mortalitäts-Kurve ist, wie man hier ablesen kann, im Normalbereich. Der massive Anstieg der Corona-Zahlen hatte demnach bisher überhaupt keine Auswirkungen auf die Sterbezahlen.

Dasselbe gilt für Deutschland, wo nur das Bundesland Hessen und die Stadt Berlin am euromomo-Meldesystem teilnehmen. Zumindest für diese beiden Regionen geben die Fallzahlen Entwarnung. Wenn überhaupt, so machen Hessen und Berlin derzeit eine Phase der Untersterblichkeit durch.

Quelle: euomomo.eu (Kalenderwoche 25 bis 45/2020)

Wir erkennen also, dass die aktuellen COVID-Infektionen wenig bis gar keinen Einfluss auf das Sterberisiko in der Bevölkerung haben. 
Das ist zum einen beruhigend. Zum anderen fragt man sich aber natürlich, warum dann mit derartiger Vehemenz weiter getestet wird.
Österreichs Kanzler Kurz hat nun sogar angekündigt, dass – dem Beispiel der Slowakei folgend – möglichst die gesamte Bevölkerung Massentests unterzogen werden soll. In der Slowakei wurden an den vergangenen Wochenenden 3,6 der 5,5 Millionen Einwohner getestet. Wer kein negatives Testergebnis vorweisen konnte, war von einer strikten Ausgangssperre betroffen und durfte nicht zur Arbeit gehen.


Kollaps der Intensivstationen?

Ziel dieser Aktionen ist es, die Situation in den Krankenhäusern zu entspannen. Dafür wird nun in Österreich abermals eine rote Linie überschritten: Ab Dienstag werden - entgegen der vielfach geäußerten Absicht - Schulen und Kindergärten geschlossen. Zunächst bis 6. Dezember.

Wer in Österreich Nachrichten hört, wird einem Stakkato von Katastrophenmeldungen ausgesetzt. Sowohl Krankenhäuser als auch Intensivstationen seien an der Belastungsgrenze. Schon jetzt müssten planbare Eingriffe verschoben werden. 

Tatsächlich klagen Ärzte und Pflegekräfte vermehrt über schwierige Arbeitsbedingungen. Sobald jemand in einer Klinik oder im Altersheim als positiv getestet wird, ergibt sich ein Rattenschwanz an organisatorischen Problemen. Patienten, die sich im Krankenhaus angesteckt haben, müssen verlegt werden. Aber auch die täglichen Routinen für die Mitarbeiter sind unendlich mühsam und schwer mit einem effizienten Arbeits-Alltag vereinbar. 
Allein das Anlegen der vorgeschriebenen Hygiene-Kleidung sei eine Prozedur, die mindestens 30 Minuten dauert. "Und dann muss man - derart ausgerüstet - mit zwei Lagen Handschuhen, Maske, Brille, Plastik-Überwürfen, stundenlang arbeiten", erzählte die Pflege-Direktorin eines Wiener Krankenhauses kürzlich im Ö1 Morgenjournal. "Meine Mitarbeiter sind nach so einer Schicht vollständig durchgeschwitzt – fix und fertig."

Ob die Gefährlichkeit der Corona-Infektion einen derartigen hygienischen Aufwand überhaupt notwendig macht - diese Frage wird nicht gestellt. Sie wird von vornherein mit "ja" beantwortet.

Österreichs Gesundheitsminister Rudolf Anschober schwört bei den häufigen Presse-Konferenzen die Journalisten auf seine Sicht der Dinge ein. Gestern sprach er wieder einmal von der "schwersten Pandemie seit 100 Jahren". Er erklärte im Tonfall eines verärgerten Volksschul-Lehrers, dass sich manche Leute nicht so gut an die Lockdown Bestimmungen gehalten haben wie im Frühjahr - und das müssten nun alle leidvoll ausbaden: "So hat sich die Zahl der Patienten in den Spitälern und den Intensivstationen in den letzten zwei Wochen noch einmal verdoppelt."
Dazu zeigt Anschober eine Grafik in die Kamera, die einen massiven roten Berg darstellt: Den Zustrom der Patienten in die Krankenhäusern und Intensivstationen.

Minister Anschober zeigt den Ansturm auf die Intensivstationen

Tatsächlich zeigt die Kurve den Anteil der positiv getesteten Patienten - und keine Zunahme an Patienten. In der Öffentlichkeit entsteht mit diesen Aussagen aber der Eindruck, dass sich massenhaft Menschen mit Corona infizieren und dann viele von ihnen so schwer erkranken, dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen.

Interne Informationen, die mir vorliegen, zeigen bislang jedoch keinen Anstieg an Patienten mit Lungenentzündungen oder schweren Atemwegsinfekten. Das liegt laut meinen Informationen durchaus im Bereich der Vorjahre.

Es ist deshalb wahrscheinlich, dass die Ansteckungen nicht so sehr "von außen" in das Gesundheitssystem strömen, sondern dass sich die Menschen in den Pflegeheimen, in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen infizieren und fortan nicht mehr als Herzinfarkt- oder Krebs-Patienten, sondern als Corona-Fälle geführt werden.

Das wäre ein gewaltiger Unterschied. Denn dann würde es keinen großen Sinn machen, einen allgemeinen Lockdown zu verhängen. Im Gegenteil: der Lockdown wäre dann ein riesiges Ablenkungsmanöver, das von der schwierigen Situation der Infektionsgefahr im Gesundheitssystem ablenken soll. 

In der zweiten Corona-Welle sind vermehrt Österreichs Alten- und Pflegeheime betroffen. Wenn die Infektion in diese sensiblen Bereiche vordringt, so folgt daraus ein hohes Risiko für schwere Verläufe und Todesfälle. Genau dies machte im Frühjahr den Unterschied aus, ob ein Land eine hohe oder kaum Übersterblichkeit verzeichnete.
Es bleibt nun abzuwarten, ob Österreich auch so schwer getroffen wird, wie Belgien, England oder Schweden, wo etwa die Hälfte der Todesfälle aus dem Umfeld der Pflegeheime stammten. 
Im Frühling herrschte noch Euphorie über die erfolgreichen österreichischen Maßnahmen (BK Kurz: "Wir haben alles richtig gemacht."). Jetzt geht es offenbar in die Gegenrichtung. 

Ich habe mehrere Anfragen an das Gesundheitsministerium gestellt, und um Zahlen gebeten, welche den Gesamtstand der belegten Betten in den Krankenhäusern und Intensivstationen darstellt. Nur so wäre ein Vergleich zu den Vorjahren möglich. Nur so kann man prüfen, ob es sich derzeit überhaupt um eine außergewöhnliche Situation handelt und zusätzliche Patienten mit schweren Corona-bedingten Atemwegsinfekten hospitalisiert sind. 
Bislang habe ich darauf keine Antwort erhalten. Und es gibt meines Wissens auch keine öffentlich zugänglichen Daten, welche es ermöglichen, diese Frage in Österreich zu beantworten. Gesundheitsexperten wie Martin Sprenger haben diesen Missstand seit langem öffentlich angeprangert. "Nicht einmal Fachleute erhalten Zugang zu wichtigen Daten." Geschehen ist nichts.


Die Situation in Deutschland und der Schweiz

Diese wichtigen Zahlen, die in Österreich als Staatsgeheimnis gehütet werden, sind in den Nachbarländern Deutschland und Schweiz frei verfügbar. 

Hier eine Übersicht zur Situation auf den mehr als 1000 deutschen Intensivstationen. Hier gibt es tägliche Lageberichte zum Download. Ich habe die Zahlen vom 28. Oktober bis zum 14. November ausgewertet. Daraus ergibt sich folgende Grafik:

Intensivbetten Belegung in Deutschland

Die blaue Linie zeigt, dass die Anzahl der belegten Intensivbetten relativ stabil ist. Auch die grüne Linie der Hi-Tech-Intensivbetten für schwere Fälle - inklusive Beatmung - entspricht einem geraden Strich.
Das einzige, was wirklich ansteigt, ist der Anteil der Intensiv-Patienten mit einer Corona Diagnose (graue Linie). Ende Oktober hatten 1.569 Intensiv-Patienten ein positives Testresultat, Mitte November waren es bereits 3.325.
Und das entspricht genau jenem Anstieg, den auch Österreichs Gesundheitsminister in die Kameras zeigt.

Woher kommen nun diese Corona Fälle? - Laut Auskunft des Robert Koch Instituts werden alle Intensiv-Patienten regelmäßig getestet. Menschen mit schwachem Immunsystem sind besonders anfällig für Virus-Infektionen. Insofern spricht vieles für die These, dass es sich - zumindest zu einem Teil – um Krankenhaus-interne Infektionen handelt. Denn sonst müsste ja auch die Gesamtzahl der Intensiv-Patienten zunehmen. Das ist bisher aber nicht statistisch auffällig. Über die Wochen blieben rund 7.000 Intensivbetten konstant frei. 

Noch deutlicher ist der Zusammenhang in der Schweiz:


Die orange Linie bezeichnet die Intensivpatienten mit positivem Coronatest, die grüne Linie jene mit negativem Coronatest. Diese Linien kreuzen sich und es gibt mittlerweile bereits eine Mehrzahl von Corona-positiven Patienten auf den Schweizer Intensivstationen. 
Die Gesamtzahl der Intensiv-Patienten ist insgesamt leicht (auf 850) angestiegen. Das ist – bei insgesamt 1.600 verfügbaren Betten – noch immer meilenweit von einer Überlastung entfernt

Dennoch ist daraus klar zu erkennen, dass die derzeitige Gesundheitskrise in der Schweiz vor allem dadurch charakterisiert ist, dass sich schwer kranke Menschen in Altenheimen, Krankenhäusern und auf Intensivstationen infiziert haben. Diese interne Infektionswelle ist so massiv, dass nur noch rund 30 Prozent der Intensivbetten von nicht Covid-Patienten belegt sind.

Entsprechend groß ist auch der Nachschub bei den Corona-Todesfällen. Ohne dieses außergewöhnliche Pandemie Szenario würden die meisten von ihnen wohl als Herz- oder Krebs-Todesfälle gelten. 
Oder als Menschen, die an Altersschwäche verstorben sind. Immerhin stammen 70 Prozent der Corona-Toten aus der Altersgruppe über 80 Jahren. Das durchschnittliche Corona-Sterbealter liegt bei 84 Jahren und damit über der derzeitigen Schweizer Lebenserwartung von 83,7 Jahren.