Dienstag, 16. März 2010

Die beste Medizin: "Ein Korsett an Vorschriften"

Die Ärzte stöhnen unter einer Flut an Leitlinien und Programmen, die ihre Therapien normieren sollen. Am Rande des Ende Februar abgehaltenen Kongresses für Evidenz-basierte Medizin (EBM) in Salzburg bat Bert Ehgartner den Hausärzte-Sprecher Christian Euler und Ingrid Mühlhauser, EBM-Expertin der Universität Hamburg, zur Diskussion um die Frage, was nun die beste Medizin ist.

Standard: Wie gut fühlen Sie sich denn von Seiten der Wissenschaft in ihrem Bestreben unterstützt, Ihren Patienten die bestmögliche moderne Medizin zu bieten?

Euler: Wir haben schlechte Erfahrungen. Medizin war immer eine sehr hierarchische Angelegenheit mit uns an der untersten Stelle. Das bricht jetzt langsam auf. Die Zeiten sind vorbei, wo sich die kleinen Allgemeinmediziner von den wissenschaftlichen Kapazundern die Welt erklären lassen.  Wir sind nicht mehr die Ministraten beim Hochamt der Fachgesellschaften, sondern schmeißen denen ihre Richtlinien auch mal zurück, wenn die nicht passen.

Mühlhauser: Dann müssten Sie eigentlich ein Anhänger der evidenzbasierten Medizin sein. Denn diese ermöglicht es jedem einzelnen Arzt, zu überprüfen, ob das was die Experten in ihren Leitlinien definieren, auch richtig ist. Dadurch erst wird eine Diskussion auf gleicher Augenhöhe möglich.

Euler: Es ist eine große Kunst, die richtige Medizin auf den einzelnen Patienten anzuwenden. Es wird in der Öffentlichkeit – speziell auch von der Gesundheitspolitik - aber so getan, als hätten wir bis jetzt einen Blödsinn nach dem anderen gemacht. Gottseidank waren die Patienten gesund genug, das zu überleben. Jetzt aber werden endlich alle Ärzte an die Kandare genommen und in ein Korsett aus lauter Vorschriften und Leitlinien gepresst. Doch das Gegenteil ist wahr. Wir sehen jetzt, dass jene Ärzte im Recht waren, die skeptisch geblieben sind, wenn die Grenzwerte für Blutdruck oder Cholesterin immer weiter nach unten gedrückt wurden.

Mühlhauser: Ideal wäre es natürlich, wenn das, was der Arzt in der Praxis macht, auch mit dem überein stimmt, was dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand entspricht.

Euler: Wir haben schon auch ein Studium gemacht.

Mühlhauser: Die Entwicklung seither war aber enorm.

Euler: Aber nicht immer nur nach im Guten.

Mühlhauser: Die Reflexion dessen was man tut – sich selbst immer wieder zu korrigieren, das ist ein wesentliches Element wissenschaftlichen Agierens.

Euler: Dann sagen Sie es doch den Kardiologen oder den Diabetikern: Dass es ein Wahnsinn ist, bestimmte Mittel zu empfehlen und ein Unfug, dass das in den Leitlinien steht. Etwa bestimmte neue Medikamente für Diabetes.

Standard: Wie haben Sie sich denn hier Ihre Meinung gebildet? Vertragen das die Diabetiker nicht, oder haben Sie kritische Arbeiten dazu gelesen?

Euler: Ich denke, dass so viele verschiedene Praktiker nicht irren können, wenn sie bei bestimmten Mitteln skeptisch sind. Auch wenn die Wissenschaft noch so sehr die Nase rümpft. Wenn sich eine Vorgangsweise konstant in der Praxis hält, dann muss die etwas an sich haben.

Mühlhauser: Aber das ist einer der größten Irrtümer der Medizin, so zu denken. Nur weil die Ärzte immer der Meinung waren, dass etwas richtig ist…

Euler: …und es auch den Patienten nicht geschadet hat.

Mühlhauser: Sie meinen, dass es den Patienten nicht geschadet hat. Es gibt aber leider verschiedene Beispiele, wo die Ärzte nach bestem Gewissen gehandelt haben und man dann  eine schreckliche Enttäuschung erleben musste. Berühmte Beispiele sind die Hormonersatztherapie, oder ein verbreitetes Mittel zur Behandlung von Herzrhythmus-Störungen. Als Hausarzt können Sie das nie herausfinden, ob mit dem Mittel jetzt nicht fünf, sondern zehn von tausend Leuten sterben. Dafür braucht es gut gemachte große Studien.

Euler: Beide Beispiele zeigen, dass wir nicht die Zunft sind, die es zu überzeugen gilt. Ich hatte  Kontakt mit Professoren, die gegen meinen Widerstand darauf beharrt haben, dass ich ihren Müttern bis zu deren Tod regelmäßig Östrogene verschreibe. Und das mit den Herzrhythmusstörungen müssen Sie den Kardiologen sagen.

Mühlhauser: Dann nehmen wir die Antibiotika-Behandlung bei den Mittelohrentzündungen.

Euler: Die EBM tröstet mich hier, wenn ich weiß, dass es nicht mehr Komplikationen gibt, wenn ich kein Antibiotikum verschreibe. Aber wenn ich jetzt kein Antibiotikum gebe, und die Mutter geht zwei Tage später zum Facharzt, so wird der massiv auf mich los gehen. Das ist zwar schön, dass die EBM hier auf meiner Seite ist, aber ich kann das nicht in der Praxis anwenden.

Mühlhauser: Das Problem ist dann aber die Abwesenheit von EBM.

Euler: Je höher in der Hierarchie die Leute stehen, desto wissenschaftsgläubiger sind sie. Ich war etwa im Herbst zum Höhepunkt der H1N1-Hysterie in einem Gremium, wo ich unter lauter Universitätsprofessoren der einzige Allgemeinmediziner war. Ich habe mich dort kritisch über die Impfung geäußert und alle sind über mich her gefallen. Professoren, zwanzig Jahre jünger als ich, haben ihre Kindergartenkinder mit ins Spital genommen, damit sie nur möglichst früh geimpft werden. Das ist nicht Wissenschaft, das ist Glaube.

Mühlhauser: Das kann man nicht generalisieren. Es gibt auch in Österreich Professoren, die sich bemühen, wissenschaftsbasiert zu arbeiten.

Euler: Kennt man sie? – Wer in Österreich eine Habilitation schreibt, hat einen Sponsor und dem bleibt er treu bis zur Pension.

Mühlhauser: Die Abhängigkeit von der Industrie ist ein ganz wichtiger Punkt. Und es kommt nicht von ungefähr, dass dieser Kongress hier nicht gesponsert ist und wir uns alles selber zahlen, vom Wohnen bis zur Reise.

Euler: Für uns ist das ein ganz großes Problem, dass nun die Gesundheitspolitiker meinen, sie müssten für jede Krankheit ein Programm vorlegen, weil das die dummen Ärzte sonst nicht behandeln können. Gleichzeitig lassen sie es aber zu, dass die Köpfe der Wissenschaft eingekauft sind und sich jeder Praktiker fürchten muss, vor Gericht einen Gutachter zu bekommen, der ihn ohrfeigt, weil der Arzt dem 80-jährigen keinen Cholesterinsenker verschrieben hat.

Standard: Nehmen wir mal das Beispiel Diabetes. Hier ist die Ärztekammer in Niederösterreich kürzlich aus dem an sich recht gelobten Disease-Management Programm zur Optimierung der Therapie von Diabetikern ausgestiegen. Was war denn dafür der Grund?

Euler: Es haben zehn Prozent der Ärzte mitgemacht und die Ergebnisse nach einem Jahr waren nicht überzeugend. Die Ärzte haben – entgegen ihrem Ruf – obwohl sie ein bisschen mehr bezahlt bekommen haben, das Programm wieder aufgekündigt. Wir wollen nicht, dass man uns vermittelt, unsere Ausbildung wäre nichts wert und wir müssten jetzt für die Behandlung jeder Krankheit einen eigenen Kurs machen.

Mühlhauser: Ich bin selber Diabetologin und hab mich viel mit Patientenschulung beschäftigt. Wir haben die Programme evaluiert – die Ergebnisse waren großartig. Sie sind aber nicht umgesetzt worden. Manche Ärzte machten es nur, wenn sie Lust und Laune hatten, oder einen besonderen Hang zur Patientenschulung. Ein gutes Programm sorgt dafür, dass alle Patienten das bekommen, was ihnen zusteht. Und auch, dass sie nicht übertherapiert werden.

Euler: Ich persönlich bin überzeugt, dass die Daten aus diesen Programmen auch Grundlagen für Rationierungen sein werden. Indem es eben heißt: Diesem übergewichten Diabetiker schieben wir jetzt zwei Jahre lang das geballte Wissen hinein. Und wenn er dann immer noch so fett ist, zahlt er mehr Beitrag.

Mühhauser: Ich lehne das ebenso ab, dass Patienten bestraft werden sollen, weil sie nicht abnehmen. Oder dass die Ärzte bestraft werden, weil ihre Patienten nicht abnehmen.

Euler: Das wäre ja noch toller, bei uns im Burgenland sogar ruinös.

Standard: Aber was macht man wirklich mit diesen Widersprüchen zwischen den offiziellen Programmen und den Leitlinien der Fachgesellschaften. Das widerspricht sich in vielem, wird von der Öffentlichkeit aber alles als EBM verstanden.

Mühlhauser: Das ist schon ein Problem, das wir haben. Dafür braucht es unglaublich viel Aufklärungsarbeit. Die Leute müssen irgendwann mal verstehen, dass eine Leitlinie von einer Fachgesellschaft über Experten formuliert wird und dass die nicht unbedingt Evidenz-basierte Aussagen treffen.

Euler: Wenn ich heute den pharma-unabhängigen Arzneimittelbrief lese, da muss ich mich wirklich aufrecht hin setzen, damit ich nicht einschlafe. Das ist so mühsam im Vergleich zu den bunten Inseraten, wo die einfachen Botschaften sofort ins Gehirn gehen. Wir haben einen übermächtigen Gegner. Und die Frage ist, ob die Politik den Mut hat, sich damit anzulegen.

Mühlhauser: Aber wir sind doch da, Herr Euler. Denken Sie an David gegen Goliath.


Dr. Christian Euler, 59, betreibt seit 1980 eine Praxis in Rust (Burgenland) als niedergelassener praktischer Landarzt und ist nebenher Präsident des Österreichischen Hausärzteverbandes. Christian Euler ist verheiratet, seine Frau Elisabeth ist ebenfalls Ärztin. Gemeinsam haben sie sieben Kinder.





Dr. Ingrid Mühlhauser, 56, ist Fachärztin für Innere Medizin, Endokrionolgin und Diabetologin. Seit 1996 bekleidet Mühlhauser eine Professur für Gesundheitswissenschaften an der Universität Hamburg. Die vehemente Verfechterin einer Evidenz-basierten Medizin engagiert sich besonders in der Patientenschulung und für deren Chance zur informierten Entscheidungs-Findung bei medizinischen Fachfragen.

Eine leicht gekürzte Version dieser Diskussion erschien am 15. März in der Tageszeitung "Der Standard".

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