Im aktuellen Profil erschien heute meine Cover-Geschichte "Der Vorsorge-Wahn". Da online nur der Haupttext verfügbar ist, bringe ich hier ergänzend das zur Story gehörende Interview mit dem Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz:
profil: Sie behaupten, dass wir heute im Zeitalter einer real existierenden Gesundheitsreligion leben. Was meinen Sie damit genau?
Lütz: Die Leute glauben heute vielfach nicht mehr an den lieben Gott, sondern an die Gesundheit, und alles, was man früher für den lieben Gott tat - Wallfahrten, Fasten, usw. - das tut man heute dafür. Es gibt Leute, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot. Gesundheit gilt nicht mehr als Göttergeschenk, sondern, wie alles in unserer Gesellschaft, als herstellbares Produkt: Und so rennen die Leute durch die Wälder, essen Körner und Schrecklicheres und - sterben dann doch.
profil: Gesundheitsökonomen argumentieren damit, dass ungesunder Lebensstil die Solidargemeinschaft schädigt, weil alle die Kosten dafür tragen müssen.
Lütz: Das ist ja gar nicht belegt. Wenn ein starker Raucher mit 41 am Bronchialkarzinom stirbt, verursacht das weniger Kosten, weil der die ganzen Alterskrankheiten und den Pflegeaufwand nicht mehr hat. Man möchte die Bürger zwingen, gesund zu sein. Und deshalb gibt es diese ganzen Vorschriften. Doch Schritt für Schritt werden wir durch die Gesundheitsreligion unserer Freiheit beraubt. Vor 70 Jahren gab es Blockwarte, die feststellten, ob die Umgebung auch noch die braune Gesinnung hatte. Wenn die Gesundheitsreligion Staatsreligion wird, womit ich täglich rechne, werden wir Blockwarte von den Krankenkassen bekommen, die achten, ob geraucht wird oder ob die Leute auch Sport betreiben. Die Freiheit einer freiheitlichen Gesellschaft ist aber immer auch die Freiheit zum ungesunden Leben.
profil: Den Menschen wird geraten, sie sollen nicht übergewichtig sein und sie sollen sich mehr bewegen. Das ist doch berechtigt.
Lütz: Aber machen Sie das mal, wenn Sie die falschen Eltern haben. Wir können durch gesundheitsbewussten Lebens herzlich wenig ausrichten. Die Gnade der Gene ist im Vergleich doch viel wichtiger. Wenn ihre Eltern sehr alt geworden sind, haben sie ungerechterweise sehr gute Chancen, ebenfalls alt zu werden, egal wie Sie leben.
profil: Der alten Weisheit „Vorbeugen ist besser als heilen“ können Sie also wenig abgewinnen?
Lütz: Das Problem dabei ist: Man möchte gute Werke tun, aber man weiß in der Gesundheitsreligion gar nicht so genau, was die guten Werke sind. Es gibt etwa überhaupt keinen Beweis, dass die Diäten wirken. Einmal heißt es mehr Kohlenhydrate, dann wieder gar keine. Die WHO hat eine Gesundheits-Definition in die Welt gesetzt, die vollends utopisch ist: Gesundheit sei völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Es ist klar, dass das niemals erreichbar ist. Aber ein unerreichbares Ziel, das zugleich zum höchsten erklärt wird, ist ökonomisch natürlich interessant. Und so boomt die Gesundheitswirtschaft wie keine andere Sparte. In der Tat werden hier auch die tollsten Erfindungen gemacht. Der Ehrgeiz aller Tüchtigen konzentriert sich darauf, hier immer den letzten Schrei zu produzieren.
profil: Insgesamt werden wir aber unbestritten älter denn jemals zuvor in der Geschichte.
Lütz: Ja, vielleicht nach den nackten Jahreszahlen. Subjektiv lebten die Menschen im Mittelalter aber wesentlich länger. Sie hatten ihre diesseitige Lebenszeit plus das ewige Leben. Für sie war psychologisch tatsächlich der Tod ein Durchgang. Und heute ist das Leben zusammengeschnurrt auf diese kurze Lebenszeit und es herrscht Nervosität im Wartesaal des Todes. Alle paar Jahre gibt es inzwischen Todes-Kampagnen. Man munkelt, dass alle sterben werden, an Vogel- oder Schweinegrippe oder am Rinderwahn.
profil: Wer steckt denn hinter dieser Angstmache. Wie hoch bemessen Sie etwa den Einfluss der Pharmaindustrie?
Lütz: Wir dürfen nicht immer Sündenböcke suchen. Wenn wir uns als Gesellschaft ein unerreichbares und zugleich sakrales Ziel setzen, so ist klar, dass Menschen, die wirtschaftlich denken, da auch Profit daraus schlagen wollen.
profil: Das heißt, wir müssen uns in unserer Erwartungshaltung selber am Schopf packen?
Lütz: So ist es. Wir brauchen dringend eine gesellschaftliche Debatte über die Wertigkeit der Gesundheit, sonst ist ernsthafte Gesundheitspolitik ja gar nicht mehr möglich. Denn Politik ist die Kunst des Abwägens. Ein höchstes Gut jedoch kann man gar nicht abwägen, dafür muss man immer alles tun – oder es wenigstens behaupten.
Manfred Lütz, 55, ist Facharzt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, sowie katholischer Theologe. Er arbeitet als Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln und ist Autor mehrerer Bestseller („Lebenslust - Über Risiken und Nebenwirkungen des Gesundheitswahns“ Droemer/Knaur, 2006, „Gott: Eine kleine Geschichte des Größten“, 2009). Im September erscheint sein neues Buch „Irre - Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ im Gütersloher Verlagshaus.
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