Ehgartner: Nach Charles Darwin ist die natürliche Selektion eines der wichtigsten Kriterien der Evolution. Die am besten an ihre Umgebung angepassten Individuen überleben. Sind da nicht manche auffällig gefärbte Tiere viel zu schön um zu überleben?
Reichholf: Diese Frage war Darwins Dilemma und hat ihn sehr beschäftigt. Wir wissen heute, dass Anpassung eine Möglichkeit ist, aber nicht unbedingt eine Notwendigkeit. Schönheit kann evolutionäre Vorteile bieten, die jene der simplen Tarnung weit übersteigen.
Ehgartner: Warum erscheinen uns die Schmetterlinge so schön?
Reichholf: Das hat mehrere Gründe. Wenn das Tagpfauenauge seine Flügel präsentiert, so wirkt es auf Feinde wie das plötzliche Auftauchen eines Augenpaares. Es entsteht eine Abschreckwirkung. Ich habe beobachtet, wie eine Katze vor Schreck fast abgestürzt ist, als das Tagpfauenauge, das mit zusammen geklappten Flügeln da saß plötzlich diese aufmachte – und plötzlich das große Augenpaar vor der Katze war. Und ähnlich ergeht es den Vögeln. Man kann das Präsentieren auch mit leichtem Anstoßen regelrecht auslösen. Wer das nicht weiß, da erschrickt auch der Mensch für eine Sekunde. Das führt weiter zu den Warnfarben vor Giftigkeit. Und die müssen in klaren Mustern erscheinen, damit sich das den Fressfeinden einprägt. Deshalb sind das auch keine unregelmäßige Flecken. Denken Sie an das Wespenmuster: gelb-schwarz.
Dann kommen Muster der dritten Kategorie, die herausgelöst aus der natürlichen Umgebung ungewöhnlich wirken. Wenn man die Tiere aber in ihrem Umfeld beobachtet, so merkt man, dass auch grelle Farben tarnend sein können. Etwa bei den großen Morphofaltern Südamerikas (Foto) mit ihrem fantastischen Blau, wo man denkt, das muss doch auffallen und Feinde anziehen. Aber das tut es nicht. Diese Tiere fliegen im Tropenwald, der sehr schattig ist. Dann kommen aber Lichtzonen, der Schmetterling blitzt auf und ist im nächsten Moment verschwunden, weil er wieder in den Schatten kommt. Die Vögel treibt das zur Verzweiflung, weil dieser große Schmetterling da und dort aufblitzt und dann sofort wieder verschwindet.
Ehgartner: Mit der Partnerwahl hat diese auffallende Färbung also gar nichts zu tun?
Reichholf: Nein, und darum habe ich das in meinem Buch auch gar nicht behandelt, weil die sexuelle Selektion hier kaum eine Rolle spielt. Eine Ausnahme ist der Zitronenfalter. Da sind die Weibchen, so wie Kohlweißlinge ganz hell und die Männchen zitronengelb. Sie wirken damit auf die Weibchen sehr wohl anlockend, die Weibchen tarnen sich aber – und sehen täuschend den schlecht schmeckenden Kohlweißlingen ähnlich. Die Vögel wissen, diese Schmetterlinge schmecken scheußlich. Das ist für die Weibchen ganz wichtig, weil sie den Hinterleib voller Eier haben und deshalb langsamer sind.
Die Männchen brauchen das nicht. Deshalb können sie auffälliger sein und überleben trotzdem besser. Wo immer sie nachsehen, sie werden sicher mehr Männchen vom Zitronenfalter finden als Weibchen.
Ehgartner: Gilt das auch für die Stockenten, wo ja die Männchen prächtig bunt sind – die Weibchen hingegen tarnfarben braun?
Reichholf: Ja, die Weibchen sitzen dann auf den Gelegen und müssen sich vor den Feinden tarnen. Trotzdem sind sie seltener als die Männchen, weil diese auf sich schauen können und nicht an einen Platz gebunden sind. Der Erpel haut halt ab, wenn der Habicht kommt oder der Fuchs. Die Ente muss zum Gelege zurück, sonst ist ihre ganze Investition beim Teufel.
Stockenten-Paar (Foto: Richard Bartz) |
Ehgartner: Das heißt es geht in der Natur sehr viel um Energie, die möglichst rationell investiert wird. Worauf achtet denn ein Weibchen, wenn sie sich den passenden Erpel aussucht?
Reichholf: Die Erpel unterscheiden sich wenig. Ein Männchen muss einfach dem Schema dieser charakteristischen Färbung entsprechen. Er sollte keine Mängel in der Gefieder-Zeichnung haben. Diese Männchen werden nur dann akzeptiert, wenn – etwa in der Haustierhaltung - keine Normalfarbenen vorhanden sind. Aber ob der Kopf jetzt etwas mehr oder weniger grün schillert, das macht keinen Unterschied. Die Weibchen wählen, während die Männchen eine Balzgruppe bilden, jene Erpel, die am ausdauernsten balzen. Das sind die körperlich fitten. Es geht um den Aspekt, was die Kerle leisten können, weniger, wie sie aussehen.
Ehgartner: Manche Tiere scheinen wie geschaffen für Fressfeinde. Wie ist es erklärbar, dass ein Pfau in der Wildnis überleben konnte. Diese extravagante Schönheit behindert ihn doch stark im Fluchtverhalten.
Reichholf: Das scheint nur so. Zum einen wirkt der Pfau mit seinem eindrucksvollen Rad und den vielen Augen abschreckend auf Angreifer, zum zweiten kann er die Federn im Notfall über den Mechanismus einer Schreckmauser spontan abwerfen. Die Energie, die Weibchen in die Aufzucht der Jungen investieren, geht bei den Männchen in die Schönheit.
Ehgartner: Was zeichnet denn Tierarten aus, wo Männchen und Weibchen optisch kaum zu unterscheiden sind?
Reichholf: Während etwa die Erpel der Stockenten spätestens dann, wenn die Weibchen auf dem Gelege sitzen, wieder ihrer Wege gehen, sind bei diesen Arten die Männchen voll in die Aufzucht der Jungen involviert. Dazu zählen viele Singvogelarten, bei denen die Investition in den Nachwuchs zwischen den Geschlechtern nahezu gleich ist. In der Zeit der Balz gleichen die Männchen diesen Mangel an Schönheit dadurch aus, dass sie sehr gut und variantenreich singen. Die Nachtigall ist ja das Musterbeispiel mit einer Farbe die so unscheinbar ist, dass man sie kaum beschreiben kann, aber ein fantastischer Gesang der Männchen, wo sich auch jedes individuell vom anderen unterscheidet, so dass die Nachbarn immer genau wissen, wer da jetzt singt und ob es sich lohnt, hier eine Rauferei anzufangen, oder ob die Verhältnisse eh schon klar sind.
Ehgartner: Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass die Stockenten-Erpel nicht mit ihrer Balz aufhören, wenn die Weibchen längst brüten, sondern sich mit den anderen Männchen weiter in ihrer Balzgruppe treffen. Was bezwecken sie damit?
Reichholf: Das ist eine Neuinterpretation von mir, die ich hier vorlege. Ich habe überall in der Literatur nachgeforscht, warum das so ist und keine Erklärung gefunden. Ich habe nun eine wie ich denke plausible Interpretation. Die Weibchen verlieren ja zu einem hohen Prozentsatz ihre Gelege, wenn die von Feinden entdeckt werden. Wenn die Enten noch gut in Form sind, können sie ein Nachgelege fabrizieren. Aber es muss ja jedes Ei zur rechten Zeit, bevor die Kalkschale abgelagert wird, befruchtet werden. Also brauchen diese Enten sofort wieder einen Erpel, der das Sperma liefert. Da aber bei den Vögeln die Aktivitätszeit der Gonaden sehr klar mit der Fortpflanzung verbunden sind und dann rasch wieder abnimmt, so dass die Männchen einen Großteil des Jahres Neutren sind, würde das bedeuten, dass die Enten, wenn sie ihr Gelege verlieren und ihr Erpel sie verlassen hat und die anderen Erpel auch nicht mehr in Balzstimmung sind und kein Sperma produzieren, dass sie niemand finden. Wenn sich aber die Erpel gegenseitig in dieser Männergruppe permanent stimulieren, so bleiben die Hoden aktiv. Und wenn ein Weibchen kommt, können sie die Eier wieder befruchten.
Ehgartner: Wobei das für die Weibchen auch ein hohes Risiko bedeutet.
Reichholf: Ja, das ist die andere Seite. Es kommt zu Vergewaltigungen, weil die Erpel noch voll aktiv sind – und die Weibchen immer rarer werden, weil sich die meisten mit dem Gelege zurück gezogen haben. Dadurch besteht eine große Gefahr für die verbleibenden Enten, vergewaltigt zu werden. Unter Umständen bis zum Tod.
Ehgartner: Bei anderen Tierarten, wie etwa den Schimpansen, erkennen die Männchen an typischen Genitalschwellungen, wenn die Weibchen befruchtungsfähig sind. Warum ist das bei den Menschen so anders als bei den Primaten?
Reichholf: Diese Frage habe ich befürchtet, weil sich die meisten Biologen darum herumdrücken. Wir haben zwei klare Befunde. Der eine ist anatomischer Natur. Wir sind ja aufgerichtet, und wenn es zu so einer Schwellung käme wie bei den Menschenaffen, so könnte die Menschenfrau nicht mehr gehen. Das darf nicht sein. Die Frage ist, warum es nicht zu einer Art Ersatzsystem kommt. Etwa über den Geruch. Bei der Menschenfrau ist der Eisprung aber gänzlich verborgen. Die verborgene Ovulation ist das größere Rätsel. Nicht einmal der eigene Mann, der in intimster Nähe mit der Frau lebt, kann erkennen, ob sie jetzt fruchtbar ist, oder nicht. Die Frau kann es spüren, auch nicht hundertprozentig, aber doch. So dass bei beabsichtigten Seitensprüngen so genannte Kuckuckskinder zustande kommen, weil die Frauen ihre fruchtbaren Tage dafür eingesetzt haben. Man sagt ja, dass bei Frauen bis zu 20 Prozent der geborenen Babys nicht vom offiziellen Vater stammen. Es ist aber kein verlässliches Zeichen, dass jetzt die Zeit für eine Fortpflanzung günstig wäre. Und deshalb muss es hier eine andere Erklärung geben. Das ist die Notwendigkeit der Bindung von Mann und Frau im Hinblick auf den so klein und hilflos geborenen Nachwuchs. Das Menschenbaby kommt ja wie eine Frühgeburt zur Welt und sollte eigentlich noch fast ein Jahr länger im Mutterleib sein, um den Zustand zu erreichen, in dem zum Beispiel ein Schimpansenbaby geboren wird. Die nachgeburtliche Entwicklung verläuft ebenso langsam, so dass wir erst im Alter von zwölf bis 15 Jahren – anfangen, funktionsfähige Geschlechtsorgane zu bekommen. Da haben die allermeisten Säugetiere längst mehrere erfolgreiche Paarungen und Schwangerschaften vollzogen. Diese lange Phase ist der Grund dafür, dass der Partner verlässlich genug bei ihr bleiben soll, um das Kind und die Mutter über diese Phase der Unselbständigkeit hinaus zu bringen. Die Partnerbindung spielt beim Menschen demnach eine ganz ganz große Rolle. Am besten ausgedrückt wird das über die Eifersucht. Ein Schimpanse wird auch eifersüchtig, wenn er sieht, dass sich ein Weibchen mit einem Nebenbuhler paart. Aber das wirkt nicht nach, das vergeht wie ein kurzes Aufwallen von Zorn. Beim Menschen hingegen kann die Eifersucht anhalten und immens zerstörerisch werden. Diese Bindung – muss in früherer Zeit so notwendig gewesen sein für das Überleben der Menschen, dass dieses zusätzliche Sicherungssystem entstand.
Ehgartner: Liegt hier auch der Grund, warum bei den Menschen – im Gegensatz zu den allermeisten Tieren – die Frau als das schöne Geschlecht gilt. Macht sich die Frau schön, um diese Bindung zu unterstützen?
Reichholf: Ja. Das ist einer der beiden Hauptgründe. Der zweite ist, dass Frauen nur eine vergleichsweise kurze Fortpflanzungsphase haben. Meist stehen mehr Männer zur Verfügung, die Nachwuchs liefern könnten als fortpflanzungsfähige Frauen. Es rücken aber permanent auch jüngere Frauen nach. Die Gegenreaktion ist, sich entsprechend attraktiv zu machen. Das beginnt bei den jungen Mädchen und läuft weiter bis über die fortpflanzungsfähige Phase hinaus, wo sich die Frauen so zurecht machen, dass sie von den äußeren Signalen her den Eindruck erwecken könnten, wenn man es rein biologisch betrachtet – mit intensiv roten Lippen, hochgezogenem Busen – dass sie noch in der Lage sind, Kinder zu bekommen. Auf dieses uralte Signalsystem sprechen die Männer an – und, was ganz besonders wichtig ist: auch die anderen Frauen. Denn die Konkurrenz der Frauen untereinander ist immens große. So dass wir eben das Phänomen haben, dass Frauen immer möglichst anders aussehen wollen als andere Frauen, in der Kleidung, in der Frisur, im Äußeren. Das Individuelle ist viel ausgeprägter als bei den Männern. Die lassen sich fast widerstandslos uniformieren.
Ehgartner: Aber als selteneres Geschlecht haben Frauen doch eine breitere Wahlmöglichkeit. Da müsste der Konkurrenzdruck doch geringer sein?
Reichholf: Das scheint nur so. Bei den Männern sind ja höchst unterschiedliche Verhältnisse. Früher bezog sich das auf die Fähigkeit zu jagen oder die Menge der Rinder, die einer besaß, heute gilt dasselbe für die finanziellen Verhältnisse. Es gibt viele Männer, die wenig zu bieten haben und demnach wenig attraktiv sind. Die können sexuell sehr gut sein, aber sie haben keine Ressourcen, um den Kindern Sicherheit zu geben, oder den Frauen entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen, damit sich diese in der Konkurrenz der Frauen untereinander entsprechend gut darstellen können. Das ist ja der Hintergrund auch der Harembildung. Männer, die derartig wohlhabend sind, sind ganz besonders attraktiv und deshalb konkurrieren die Frauen um diese wirtschaftlich potenten Männer. Denn sexuell potente Männer können sie sich bei Bedarf ja auch angeln. Aber von dem wollen sie nicht abhängig sein.
Ehgartner: Stärke, Größe und Schönheit, die bei den Tieren wichtig ist, wird bei den Menschen-Männern also durch Ressourcen ersetzt.
Reichholf: Ja, genau. Deshalb ist in Gesellschaften, wo die Großfamilien noch funktionieren das Konkurrenzverhalten der darin etablierten Frauen viel geringer. Weil die Frauen hier die Sicherheit haben, dass die Kinder vom Familienverbund notfalls unterstützt wird. In einer Kernfamilie sind die Frauen aber viel mehr von den wirtschaftlichen Gegebenheiten abhängig. Und das ist wahrscheinlich auch der Hintergrund, warum Frauen im modernen Arbeitsleben, weil sie selbst die Ressourcen beschaffen müssen, die Kinderzahl so drastisch reduziert haben.
Ehgartner: Wer wählt denn nun den Partner aus? Die Männer oder die Frauen?
Reichholf: Das machen ganz eindeutig die Frauen. Man sieht es ja bei den jungen Männern, wie sich die präsentieren, welche Rolle etwa das Auto spielt. Man kann dann zeigen, dass man zumindestens potente Eltern hat. Oder die sportlichen Betätigungen, welche die Fitness beweisen sollen. Das ist bei den jungen Männern viel stärker ausgeprägt.
Ehgartner: Das Alter von 18 bis 22 Jahre gilt hier ja auch als höchst lebensgefährliche Phase. Ist das eine Erblast aus dem Tierreich?
Reichholf: Vielleicht. Dem muss man aber entgegen stellen, dass bis vor etwa 100 Jahren die Frauen durch die Geburten sehr gefährdet gewesen. Viele sind gestorben. Das steht der Tendenz der jungen Männer gegenüber, sich aggressiv auseinander zu setzen. Man hat das ausgenützt, um die jungen Männer, die entbehrlich schienen, in den Krieg zu schicken. Wenn es diese Tendenz nicht gäbe, hätten – so wie bei den Tieren – die Männer eigentlich die besseren Überlebens-Chancen, weil ja die Gefährdung durch die Geburten wegfiel.
Ehgartner: Warum gelten denn lange Beine als schön?
Reichholf: Das stammt aus der Zeit als der Mensch zum Menschen wurde. Wir sind ja Läufer und Nomaden – also zählte von der Körperform das, was für das Nomadenleben ideal war, eben die langen Beine mit einem wohlproportionierten Körper. So ausdauernd zu laufen wie Menschen, das kann kein anderes Säugetier.
Venus von Willendorf (Foto: Matthias Kabel) |
Reichholf: Ich glaube, dass diese Figur schon von der ursprünglichen Form des Steines weitgehend vorgegeben war. Das hat viel mehr mit Fruchtbarkeit zu tun, denn mit Schönheit. Das ist was anderes. Eine Frau mit einem großen Busen hat eher die Attribute einer Amme. Ammen waren sehr wichtig, weil eben viele Frauen im Kindbett gestorben sind. So füllig dicke wie die Venus-Figur sind in keiner einzigen Kultur weltweit ein Schönheitsideal. Die Proportionaliät ist das entscheidende.
Ehgartner: Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Schönheit in den Kulturen immer um einen Durschnitt definiert.
Reichholf: Ja, aber diese absoluten Durchschnitts-Gesichter sind eine eher kalte Schönheit. Erst die Abweichung macht das Individuum aus.
Ehgartner: Meinen Sie ein Muttermal oder eine leichte Asymmetrie?
Reichholf: Ja. In Kulturen wie Indien ist das weit verbreitet, wo dann die Gesichter sehr symmetrisch sind, wird ein Schönheitspunkt gemacht. Das soll als kleine Abweichung von der Norm das Individuelle betonen.
Ehgartner: Was macht denn das Individuelle so attraktiv?
Reichholf: Weil daraus erst die Möglichkeit einer Bindung zustande kommt. Nur wenn ich meinen Partner als Individuum erkennen kann, ist es möglich sich auch persönlich zu binden. Wenn wir alle Normmenschen wären, die alle gleich sind, dann wäre es völlig egal, mit wem man zusammen ist.
Ehgartner: Die Eigenart befördert also die Dauerbindung?
Reichholf: Deswegen sagt man ja auch zurecht, dass die Persönlichkeit sich entfalten muss. Den Müttern passt das nicht, aber Babys schauen noch weitgehend gleich aus. Die individuelle Variation ist noch zu gering, um aus dem Babygesicht heraus das spätere Erwachsenengesicht erkennen zu können. Wenn ein Baby wirklich schon so stark abweicht, dann erschrickt man fast, weil es nicht dem Kindchenschema entspricht. Mit der geistigen Entwicklung wird man schließlich zur Person, zur unwiederholbaren Individualität.
Ehgartner: Was vermittelt denn Schönheit bei der Partnersuche?
Reichholf: Vor allem Gesundheit. Da hat man seit langem Befunde, die zeigen, dass für die gesunde Entwicklung des Körpers – speziell eines so komplizierten wie des Menschen – ungestörte Abläufe notwendig sind. Das äußert sich darin, dass die verschiedenen Körperteile symmetrisch sind und proportional zueinander passen. Wir können uns nicht leisten, dass ein Bein auch nur einen Zentimeter kürzer ist, als das andere. Dann hinkt man und neigt zum Stolpern. Wir können uns aber sehr wohl unterschiedliche Nasenformen leisten, weil die Fähigkeit zu riechen damit wenig zu tun hat. Die Variation beim Menschen bezieht sich auf nicht lebensnotwendige Äußerlichkeiten. Für alles wichtige haben wir eine tief verinnerlichte Norm. Es fällt uns sofort auf, wenn ein Kopf zu klein ist, oder die Augen nicht parallel zueinander stehen.
Ehgartner: Wird die Menschheit eigentlich immer schöner, wo doch alle in der Partnerwahl so auf Schönheit achten?
Reichholf: Nein, es würde nur bedeuten, dass die Variation kleiner wird. Abweichungen bringen ja oft das Problem einer emotionalen Ausgrenzung mit sich. Früher drohte man den Kindern noch offen mit dem Schwarzen Mann. Das ist Gott sei Dank verpönt, aber die spontane Furchtreaktion ist bei den Kindern noch da, wenn die zum ersten Mal einen Schwarzen sehen. Das ist außerhalb der ihnen vertrauten Variationsbreite. Ebenso geht es den schwarzen Kindern mit einem Weißen. Gleichzeitig garantiert aber dieses zentripedale immer wieder die Durchmischung des Erbgutes. Das Ideal der Schönheit wird ja ohnehin nur ganz selten erreicht. Und die haben in der Regel auch ganz wenig Nachwuchs.
Ehgartner: Warum?
Reichholf: Eine Erklärung ist, dass diese Menschen so sehr mit ihrer eigenen Schönheit beschäftigt sind, dass sie die minder Schönen ihrer Umgebung zwar anziehen, sich mit diesen aber nicht fortpflanzen möchten. Sie haben eine psychologische Hemmung.
Die biologische Erklärung, für die ich als Biologe etwas mehr Sympathie habe, bezieht sich darauf, dass bei einem Menschen wo von Vater und Mutterseite alles stimmt, auch die Gefahr besteht, dass verborgene Fehler im Erbgut zusammen stimmen. Wenn die Eltern unterschiedlicher sind, ist diese Gefahr geringer.
Ehgartner: Wie beurteilen Sie den Trend zur Haarlosigkeit? Sogar bei den Männern wird es modern, sich am ganzen Körper zu rasieren.
Reichholf: Haarlosigkeit ist ein Jugendlichkeits-Merkmal und Ausdruck dafür, dass man jünger erscheinen möchte als man tatsächlich ist. Ich halte diesen Trend hauptsächlich begründbar aus diesem fast suchtartigen Streben jünger zu wirken. Gerade durch die Entfernung der Haare wird die kindliche Haut nachgeahmt. Die Schamhaare auszuzupfen, das wurde aber auch in anderen Kulturen traditionell gemacht. Etwa bei den Amazonischen Indianern, die ja in ihrem Klima eigentlich nackt gehen sollten. Was ihnen die Missionare in dieser feuchten Wärme verordnet haben, war schädlich. Es macht Hautpilze und ist eine große Gefahr. Nur wenn die nackte Haut dem Sonnenlicht ausgesetzt wird, kann man die Verpilzung in Schach halten.
Josef H. Reichholf, 66, ist Evolutionsbiologe und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU-München sowie Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung. Aktuelle Veröffentlichung: „Der Ursprung der Schönheit“ C.H. Beck, München 2011
Dieses Gespräch ist die Langfassung eines Interviews, das im Rahmen der Titelgeschichte "Damenwahl" in der aktuellen Ausgabe des Nachrichtenmagazins profil erschienen ist.
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