In Tirol läuft seit 20 Jahren ein weltweit einzigartiges und heftig umstrittenes Früherkennungs-Programm für Prostatakrebs an dem mehr als 75 Prozent der Männer teilnehmen. Bert Ehgartner bat den Leiter des Innsbrucker Prostata-Zentrums Wolfgang Horninger und den US-amerikanischen Präventions-Experten Russell Harris zur Konfrontation.
Standard: Bei meiner letzten Gesundenuntersuchung wurde – ohne mich vorher darüber zu informieren – ein PSA-Test zur Früherkennung von Prostatakrebs durchgeführt. Die Ärztin erklärte mir, das sei ein Gratis-Service meiner Versicherung. Wie beurteilen Sie ein solches Service?Horninger: Der Arzt müsste einen Mann, der zu einer Routine-Untersuchung kommt, jedenfalls informieren, dass es diese Möglichkeit gibt und die Zustimmung einholen. Dann gehört erwähnt, dass es problematisch ist, den Test zu machen, wenn der Mann nicht dazu bereit ist, sich später im Falle eines alarmierenden Wertes weiteren diagnostische Maßnahmen zu unterziehen. Es gehört klar über den Nutzen und die möglichen Schäden aufgeklärt.
Harris: Es wird höchste Zeit, dass es sich bis zu den Ärzten herumspricht, dass es ethisch unverantwortlich ist, wenn Tests ohne informierte Einwilligung durchgeführt werden. Die Leute werden dadurch ja oft in eine Kaskade von Nachfolgehandlungen hineingetrieben, die sie selbst gar nicht überblicken können und auch nicht wollten.
Standard: Sie organisieren seit 20 Jahren in Tirol ein Prostatakrebs-Früherkennungsprojekt. Wie halten Sie es da mit der Aufklärung? Horninger: Am Anfang stand viel Medienarbeit, wo wir über unser Projekt berichteten. Mittlerweile kommen die Männer selbst und sagen, sie wollen den PSA-Test machen. Ich frage sie dann persönlich, ob Sie sich über die Vor- und Nachteile auch wirklich im Klaren sind. Manche wollen dann noch mehr Information und die kriegen sie von mir. Wie es allerdings die anderen Urologen in Tirol mit der Aufklärung halten, weiß ich nicht. Das ist schon ein Problem, dass es hier keine allgemeinen Regeln gibt.
Harris: Wir haben im Vorsorgeprogramm der USA dazu eine Broschüre geschaffen, die den Männern in einfacher Sprache und mit Graphiken erklärt, was der Test bringt. Den Männern muss 15 Minuten Zeit gegeben werden, das zu lesen, so dass sie dann dem Arzt gezielte Fragen stellen können. Wir sollten die Leute aber auch nicht offensiv drängen, sich der Debatte zu stellen. Ich denke, dass es derzeit eine Art Prostata-Overkill gibt. Dem Thema wird zu viel Bedeutung beigemessen. Es gibt so viele Dinge die für die Gesundheit bedeutsamer sind als dieses Screening.
Horninger: In Tirol empfehlen wir den Test für Männer in der Altersgruppe von 45 bis 75 Jahren. Wenn jemand einen Prostatakrebs-Fall in der Familie hat, raten wir bereits ab 40 zum ersten PSA Test.
Harris: Ich möchte Ihnen raten, dieses Programm zu beenden. Forschung zu diesem Thema ist okay. Aber auch nur wenn es im Rahmen kontrollierter Studien stattfindet. Für so ein breites Screening, wie Sie es hier durchführen, ist der Nutzen nicht belegt.
Horninger: Nach den Daten ist ein Massenscreening wirklich nicht sinnvoll. Wir sind dabei, das in die Richtung zu ändern, dass wir dieses Service jenen Männern, die das für sich wünschen, nach vorheriger guter Aufklärung auf einer individuellen Basis ermöglichen. Es ist wie in der Formel 1. Unser Ding läuft und nun geht es darum, das Programm zu optimieren. Wir müssen die Überdiagnose reduzieren. Die Diagnosen müssen zuverlässiger werden und die Qualität der Therapie gehört weiter verbessert. Wir investieren hier viel Forschungsarbeit.
Harris: Da stimme ich Ihnen zu. Allerdings bringen Studien wenig Erkenntnis, wenn es keine Kontrollgruppe gibt, mit der ich die Ergebnisse zuverlässig vergleichen kann.
Horninger: Wir haben in Tirol enorm dazu gelernt. 1999 haben wir 557 Biopsien durchgeführt, im Vorjahr waren es nur noch 392. Bei 78 Prozent der Krebsfälle konnten wir den Tumor vollständig entfernen, und es traten keine Metastasen auf. Als wir begannen, lag diese Rate nur bei 25 Prozent. Wir haben ein hoch spezialisiertes kleines Chirurgen-Team mit enormer Routine bei diesen schwierigen Eingriffen. Die Rate der Männer die später inkontinent oder impotent sind, haben wir auf ein Minimum reduziert. In Gesamt-Österreich ist die Sterblichkeit bei Prostatakrebs im letzten Jahrzehnt um 3,2 Prozent gesunken, bei uns in Tirol aber um 7,3 Prozent. Wir haben damit etwa 370 Männern den Krebstod erspart. Das sind Erfolge, die wir zweifelsfrei belegen können
Harris: In den großen internationalen Studien hat sich gezeigt, dass Screening zwar die Todesfälle an Prostatakrebs leicht reduziert. Allerdings zum Preis einer enormen Übertherapie mit Biopsien, Bestrahlungen, chirurgischen Eingriffen. Und die Gesamt-Sterblichkeit war in den Screening-Gruppen sogar höher. Sie haben in Tirol sehr viel in die Therapie investiert und bieten hier eine erstklassige Versorgung. Das erkenne ich durchaus an und es ist wahrscheinlich, dass Ihre guten Ergebnisse eher darauf zurückzuführen sind.
Standard: Im Bundesschnitt sind die Tiroler Daten aber tatsächlich eindrucksvoll.Harris: Das kann man nicht vergleichen. In Tirol wurden bereits vor zwei Jahrzehnten innovative Therapien eingeführt, die in Rest-Österreich viel später kamen. Es bildete sich ein kleines Team hoch motivierter Spezialisten. Die technische Ausstattung ist auf höchstem Niveau. Aus dem Vergleich lässt sich kein Argument für das Screening ableiten, weil die Voraussetzungen in Tirol insgesamt ganz andere sind.
Standard: Sind Sie jemals gefragt worden, Ihre Expertise zum Thema Prostata-Früherkennung und Therapie in ein bundesweites Programm einzubringen?Horninger: Ich glaube, dass es schwierig wäre, unser Programm beispielsweise nach Burgenland zu transferieren. Man braucht dafür exzellente Radiologen, die im Ultraschall der Prostata über langjährige Erfahrung erfügen. Heute ist es damit möglich, sehr kleine Tumoren zu finden. Es braucht eine gute Therapie-Einheit zur Bestrahlung, die möglichst wenig unerwünschte Nebenwirkungen erzeugen. Und es braucht natürlich erfahrene Chirurgen. Bei uns machen die Radikaloperation nur zwei Personen. Mein Chef und ich. Das ist wie beim Tennis. Um gut zu sein, muss man jeden Tag den Aufschlag trainieren.
Standard: Und wie gehen Sie damit um, dass etwa die Hälfte der Männer bei denen Sie einen Tumor finden, davon nie erfahren hätten, wenn man nicht danach gesucht hätte?Horninger: Ich weiß nicht, ob das stimmt. Dabei handelt es sich um Rechenmodelle. Ob ein Krebs ohne Bedeutung für einen Menschen ist, weiß man erst, wenn dieser Patient an einer anderen Krankheit stirbt. Die Biopsie gibt uns leider nur sehr ungenaue Hinweise, wie es konkret um den Tumor steht und wie gefährlich er ist. Das Problem ist ungelöst.
Harris: Aber das sind doch keine Rechenmodelle. Dieses Ergebnis stammt aus der Praxis und ist eine der Erkenntnisse aus der im März publizierten Langzeitstudie mit 182.000 Teilnehmern. In der Screening-Gruppe wurden um 45 Prozent mehr Fälle von Prostatakrebs gefunden als in der Kontrollgruppe. Und natürlich auch behandelt. Bei der Biopsie werden mit der Nadel nach dem Zufallsprinzip Proben entnommen. Ebenso zufällig wird dann Krebs entdeckt oder eben nicht. Man weiß aus den Autopsiestudien, dass ein sehr hoher Prozentsatz der verstorbenen Männer einen Tumor hatten, ohne es zu wissen. Screening hat ein hohes Schadenspotenzial und führt zu enormer Überdiagnose.
Horninger: Sie könnten natürlich recht haben. Wir kennen das Problem und wir müssen uns dem stellen. Wir haben es über eine Verfeinerung der Messmethoden geschafft, viele unnötige Biopsien zu vermeiden. Wir zeichnen die Werte über die Jahre genau auf und beobachten die Entwicklung. So haben wir etwa Männer, die seit vielen Jahren einen sehr hohen PSA-Wert von fünf haben. Damit wissen wir, dass das Risiko, an einem Krebs zu leiden, bei 26 Prozent liegt. Aber wenn der Wert gleich bleibt, so scheint es sich nicht um eine aggressive Form zu handeln und wir können unnötige Behandlungen vermeiden.

Russell Harris, (65) ist Professor für Public Health an der Universität von North Carolina in Chapel Hill. Sein Medizinstudium absolvierte er an der Johns Hopkins Universität in Baltimore. Harris war viele Jahre Mitglied der „US Preventive Services Task Force“ und eines der Masterminds des evidenz-basierten Programms zur Gesundheitsvorsorge in den USA, das international beispielgebend war. Harris ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Wolfgang Horninger (45) ist Oberarzt an der Universitätsklinik für Urologie in Innsbruck. Seit 2007 leitet er das Europäische Prostatazentrum in Innsbruck. Er absolvierte Auslands-Aufenthalte an der Johns Hopkins Universität in Baltimore sowie an der Cornell University in New York, wo er an neuen chirurgischen Techniken zur schonenden potenz-erhaltenden Prostata-Entfernung forschte. Der gebürtige Oberösterreicher veröffentlichte bislang mehr als hundert Studien in internationalen Fachjournalen.
INFO-KastenAn Prostatakrebs sterben etwa drei von 100 Männern. Innerhalb der letzten zwanzig Jahre hat sich die Zahl der Krebsfälle nahezu verdoppelt. Die Ursache dafür liegt in einem verstärkten Screening. Beim Ende Juni in Baden abgehaltenen Kongress für evidenzbasierte Prävention kam es zu einer heftigen Debatte darüber, ob bei dieser Früh-Erkennung von Prostatakrebs über Reihen-Untersuchungen der Nutzen oder der Schaden überwiegt. Als Suchinstrument fungiert dabei ein Bluttest auf Prostata-spezifische Antigene (PSA-Test), der nur eine beschränkte Aussage-Kraft hat. Zum einen übersieht er einen Teil der Tumoren, zum anderen liefert er häufig falschen Alarm, obwohl alles in Ordnung ist. Zur Abklärung sind Biopsien nötig. Dabei werden unter Ultraschall-Kontrolle mittels Endoskop vom Enddarm aus mit einer Stanznadel aus der Prostata etwa zehn Gewebeproben entnommen. Wird dabei ein Tumor diagnostiziert, ist es nur schwer möglich, dessen Gefährlichkeit einzustufen. Therapiert wird mit Bestrahlung, Hormonbehandlung, Chemotherapie oder der chriurgischen Entfernung der Prostata. Bei der Operation besteht das Risiko, dass Nerven verletzt werden. Bis zu fünf Prozent leiden danach unter Inkontinenz, ein hoher Prozentsatz bleibt impotent.
Dies ist die Langversion eines Artikels, der in der heutigen Ausgabe des Standard in der Medizinbeilage veröffentlicht wurde.Fotos: Standard/Regine Hendrich