Ein Knochenbruch ist bei älteren Menschen oft der Anfang vom Ende. Bei der Entlassung aus dem Spital sind sie dement.
Im Juni 2009 geschah das erste Verhängnis. Die 88-jährige Antonia Geier* stürzte unglücklich und brach sich den Oberschenkelhals. Die pensionierte Zahnärztin aus Wien-Hiezing wurde ins Wiener AKH eingeliefert. Nach der Operation wollte sie ständig aus dem Bett steigen und musste angebunden werden. Sie randalierte, bekam schließlich verschiedene Psychopharmaka. Entlassen wurde sie mit der Diagnose „Senile Demenz“.
„Für die ganze Familie war das ein Schock“, erzählt die Tochter Evelyn Bohrn*, „vor dem Sturz war Mutter geistig vollständig klar. Sie besorgte für sich und meinen Vater selbstständig den Haushalt.“
An Dauer-Medikamenten hatte sie nur ein Blutdruck-Mittel und gelegentlich ein Schlafmittel genommen. Nun wurde sie mit einem Arztbrief entlassen, in dem empfohlen wurde, folgende Therapie einzuhalten: „Norvasc, Concor, Citalopram, Pantoloc, Ebrantil, Iterium, ACC, Haldol, Furon, Mexalen, Dominal und Risperdol.“
Vier dieser zwölf Medikamente sind Psychopharmaka, die bei Depressionen, schweren Psychosen oder Schizophrenie angewendet werden. Die betagte Frau sollte diese Mittel jeweils viermal täglich einnehmen. „Sie torkelte durch die Wohnung, konnte nicht normal reden und war komplett inkontinent“, berichtet die Tochter. „Wenn sie einmal zu einem Satz ansetzte, schlief sie mitten drin ein“. Evelyn Bohrn beriet sich mit einer Fachärztin. Flüssigkeitsmangel, einer der Hauptgründe für Demenz, konnte ausgeschlossen werden. Blieben die Pillen. Unter Anleitung begann nun der schrittweise Entzug der Medikamente.
Langsam wurde ihre Mutter wieder klarer. „Sie fragte plötzlich, warum wir sie frisieren – und warum wir sie nicht selbst anziehen lassen.“ Nach drei Monaten war sie annähernd wieder so, wie vor dem Unfall. An Klinik und Rehabilitation hatte sie keinerlei Erinnerung zurück behalten.
Im Oktober passierte dann das nächste Maleur. Antonia Geier stürzte wieder und brach sich den zweiten Oberschenkel. Diesmal wurde sie in das Wilheminenspital eingeliefert. Binnen kurzem gab man ihr wieder alle Medikamente, die auf dem Arztbrief angeführt waren. Der darüber sehr besorgten Tochter erklärten Ärzte und Pfleger, dass ihre Mutter die Mittel braucht, um nachts zu schlafen. Das sei für den Heilungsprozess unbedingt nötig.
Wieder wurde Frau Geier mit der Diagnose „Senile Demenz“ entlassen. Der Arztbrief umfasste mit 14 Medikamenten noch um zwei Präparate mehr als beim letzten Mal. Diesmal schaffte es die Tochter nicht, den Entzug ihrer Mutter allein zu begleiten. Sie musste zwei Pfleger engagieren, die rund um die Uhr im Haus waren. „Es dauerte acht harte Wochen bis meine Mutter nicht mehr verwirrt und inkontinent war“, erzählt Evelyn Bohrn. „Am schlimmsten war der Entzug von Dominal. Da litt sie zwei Wochen an ständigem Schüttelfrost.“
Mittlerweile ist Frau Geier wieder „fast die Alte“. Lediglich das Kurzzeit-Gedächtnis kehrte nicht mehr vollständig zurück. Wenn die alte Dame kocht, vergisst sie, die Platte abzuschalten. Die Eltern sind deshalb zur Tochter gezogen. Eins hat Frau Bohrn aber mittlerweile gelernt: Dass das Schicksal ihrer Mutter bei weitem kein Einzelfall ist. „Seit uns das passiert ist, berichten rundum im Bekanntenkreis die Leute von ähnlichen Geschichten. Einen halbwegs glücklichen Ausgang, so wie bei uns, gab es da jedoch nirgends.“
* Name auf Wunsch geändert
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