In Großbritannien ist eine heftige Diskussion über die Gefährlichkeit der HPV-Impfung ausgebrochen, nachdem am Montag, unmittelbar nach dem Impftermin in einer Schule in Coventry, ein 14-jähriges Mädchen gestorben ist. Eine weitere Schülerin musste ärztlich versorgt werden und ist - laut Auskunft ihrer Mutter - in nach wie vor schlechtem Zustand. Die Behörden unterbrachen die Impfkampagne und die Herstellerfirma GlaxoSmithKline zog die betroffenen Impf-Chargen - insgesamt 200.000 Dosen - ein.
Die 14-jährige Natalie Morton (Foto: Daily Mail) wurde Montag vormittag, im Rahmen einer Impfaktion in ihrer Schule, gegen Humane Papilloma Viren (HPV) geimpft. Binnen kurzem wurde sie blass. Sie sagte, ihr ist schlecht und sie kollabierte im Klassenzimmer. Der Notarzt wurde gerufen, sie wurde in die Klinik gebracht, ihr Zustand verschlechterte sich rapide. Bereits wenige Stunden nach dem Impftermin mussten die Ärzte den Kampf um das Leben des Mädchens verloren geben.
In einer ersten Untersuchung der Todesursache verlautbarte eine Sprecherin der staatlichen Gesundheitsbehörden, dass es einen Verdacht auf eine vorhandene schwere Gesundheitsstörung bei Natalie gebe, die für den Tod des Mädchens verantwortlich sein könnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Impfung den Tod unmittelbar ausgelöst hatte, sei gering. Nähere Angaben zu dieser Gesundheitsstörung wollten die Behörden aber derzeit noch nicht machen.
Die Tageszeitung Daily Mail berichtet über eine zweite Schülerin, die nach der Impfung zusammen brach und medizinisch behandelt werden musste. Nach Auskunft der Mutter liegt das Mädchen derzeit mit starken Brust- und Rückenschmerzen zu Hause.
In den 18 Monaten, die nun in Großbritannien gegen HPV geimpft wird, sind 1,4 Millionen Impfstoff-Dosen verimpft worden. In 4.557 Fällen wurden Nebenwirkungen an die Behörden gemeldet. Vor allem handelte es sich dabei um Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Dass Mädchen nach der HPV-Impfungen häufig ohnmächtig werden, ist bekannt. Es wurden aber auch schwerere Verdachtsfälle gemeldet. Ein Mädchen aus Liverpool litt etwa an Lähmungen und war für sechs Monate auf einen Rollstuhl angewiesen.
Die in Großbritannien von den Behörden aufgekaufte und gratis angebotene HPV Impfung ist Cervarix vom europäischen Hersteller GlaxoSmithKline. Im Gegensatz zum Marktführer Gardasil ist Cervarix von der US-Arzneimittelbehörde FDA bisher noch immer nicht für den US-amerikanischen Markt zugelassen. Als Ursache dafür werden Sicherheitsbedenken der US-Behörden genannt, weil Cervarix mit seinem Adjuvantiensystem "AS04" einen neuartigen Hilfsstoff enthält, der bisher noch nie in einer Massenimpfung enthalten war.
Bei AS04 handelt es sich um eine Verbindung aus Aluminiumhydroxid und einem Protein, das der Hülle von Salmonellen entnommen wurde. Es verstärkt die Immunreaktion auf die in Cervarix enthaltenen Wirkstoffe. Dabei handelt es sich um die abgetöteten und ausgehölten Hüllen der HPV-Typen 16 und 18, so genannte "virus-like particles".
Cervarix stellt die stärkere Immunreaktion, die es auslöst, in den Mittelpunkt seiner "Aufholjagd" gegenüber dem Konkurrenten Gardasil. Dass mit der biochemisch verstärkten Immunreaktion immer auch eine gewisse Gefahr einher geht, dass diese Reaktion "entgleist" und gesundheitlichen Schaden anrichtet, ist bekannt - und auch einer der Gründe für die bisherige Vorsicht der FDA.
Wie sich Cervarix konkret gesundheitslich auswirkt, und wie breit sein Nebenwirkungs-Spektrum ist, ist schwer zu beurteilen, weil es in den großen klinischen Tests, wo dies geprüft hätte werden können, jeweils nur gegen andere - ebenfalls über Aluminiumsalze verstärkte - Impfstoffe getestet wurde. Die von den Hilfsstoffen ausgehenden Nebenwirkungen waren damit maskiert, weil sie ja sowohl in der Cervarix- als auch in der Kontrollgruppe enthalten waren.
Für das neuartige Adjuvantiensystem selbst sind keine eigenen Sicherheits-Tests am Menschen vorgesehen. Hier genügen den Behörden Ergebnisse aus Tierversuchen.
Immer mehr Mediziner und Wissenschaftler kritisieren diese Vorgangsweise als verantwortungslos und fordern eine wissenschaftliche Klärung des Risikos, das von diesen Impfverstärkern ausgeht. Und zwar in eigenen Sicherheits-Studien unter Verwendung wirklicher Placebo-Impfstoffe - etwa eine physiologisch neutrale Salzwasser-Lösung - in den Kontrollgruppen.
Bert Ehgartner live
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Mittwoch, 30. September 2009
Donnerstag, 24. September 2009
Schweinegrippe: So geht Lobby
Unter Druck der Pharmakonzerne haben die Politiker zugeschlagen und um rund eine Milliarde Euro Schweinegrippe-Impfstoff bestellt. Zwei Drittel der Deutschen wollen sich aber "sicher nicht" gegen die Schweinegrippe impfen lassen. Das restliche Drittel überlegt noch.
Jörg Böcker, Moderator eines sehenswerten Beitrages des ARD Magazins "Plusminus" schlägt eine Alternative vor: "Wie schön wäre es, wenn sich die Politiker gegen die Lobbyisten der Pharmaindustrie impfen lassen könnten."
Auch Harald Schmidt hat sich dem Thema Schweingrippe gewidmet.
Auf sehr amüsante Weise:
Jörg Böcker, Moderator eines sehenswerten Beitrages des ARD Magazins "Plusminus" schlägt eine Alternative vor: "Wie schön wäre es, wenn sich die Politiker gegen die Lobbyisten der Pharmaindustrie impfen lassen könnten."
Auch Harald Schmidt hat sich dem Thema Schweingrippe gewidmet.
Auf sehr amüsante Weise:
Mittwoch, 23. September 2009
„Brot war ein Nebenprodukt des Bierbrauens“
Der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf über die ursprüngliche Verwendung von Getreide und die Sesshaft-Werdung des Menschen.
Sie haben mit der These Aufsehen erregt, dass Getreide tausende Jahre vor der Erfindung des Brotbackens bereits für das Brauen von Bier verwendet wurde.
Reichholf: Den Ackerbau auf der Basis von Körnern konnte man nicht direkt erfinden, weil der Ertrag bei den zur Verfügung stehenden Wildgräsern zu unergiebig gewesen wäre. Wenn man aber die Körner, so wie das bei Beeren und Obst ja auch gemacht wurde, zu alkoholhaltigen Flüssigkeiten vergärt, dann kann das Gebräu von den Schamanen für ihre Riten eingesetzt werden und die Gruppe kommt in eine entsprechende Stimmung.
In den Geschichtsbüchern liest man aber das Gegenteil. Da steht beispielsweise, dass Bier wahrscheinlich zufällig erfunden wurde, indem feuchtes Brot zu gären begann.
Reichholf: Das ist höchst unwahrscheinlich. So etwas würde ja nur funktionieren, wenn man genug Getreide verfügbar hat. Bier wurde aber bereits getrunken als die Menschen noch nomadisch lebten. Und da gab es keine Möglichkeit, die große Menge an Körnern entsprechend aufzubewahren. Man muss Getreide luftig und trocken in Lagerhäusern aufbewahren. Das setzt voraus, dass die Menschen bereits sesshaft waren. Getreide als Nahrungsmittel in Tontöpfen aufzubewahren funktioniert nicht – darin verschimmelt es. In den großen Töpfen fanden gleich die Gärungsprozesse statt. Das kann man mit Hilfe der Molekulargenetik sehr schön nachweisen. Die ältesten Zeugnisse davon haben wir in Keilschrift aus der frühbabylonischen Zeit. Daraus geht hervor, dass in den allermeisten Haushalten Bier gebraut wurde – und zwar von den Frauen.
Das war dann aber mehr ein Lebensmittel und hatte keinen religiösen Zweck?
Reichholf: Genau. Das war gleichsam die Profanisierung des ursprünglichen Rituals, ganz ähnlich wie beim Rauchen. So lange Haschisch oder Tabak rar waren, wurde nur bei bestimmten Anlässen geraucht. Da war es noch verbunden mit Ritualen. Die Zigarette ist natürlich etwas völlig anderes als die Friedenspfeife der Indianer, oder auch die Opium oder Wasserpfeife, wo ja das Rauchen zelebriert wird. So ähnlich war das beim Alkohol. Er wurde anfangs bei rituellen Treffen verwendet. Erst später, als Wildgetreide in Kultur genommen und fast beliebig verfügbar war, wurde Bier alltäglich.
Dabei wurde auch das Brot entdeckt - es war ein spätes Nebenprodukt der Biergewinnung.
Was genau ist der Zweck eines Rausches, der ja für die frühen Gemeinschaften scheinbar so attraktiv und wichtig war?
Reichholf: Umherschweifende Nomadengruppen waren untereinander Konkurrenten um Fleisch und gute Jagdgründe. Beim Feiern jedoch werden sie zu Genossen. Zu Menschen, die gemeinsam genießen und damit stärker aneinander gebunden werden. Biologen haben den Aspekt betont, dass damit auch das Problem der Inzucht bekämpft wurde, das umher schweifende kleinere Gruppen immer haben. Bei den Treffen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Plätzen ging es wahrscheinlich auch um den genetischen Austausch. Ob das mehr oder weniger spontan erfolgte, weil man im Rausch nicht mehr so genau aufpasste, wer sich da mit wem einließ, oder ob es bei den Treffen zum direkten Frauentausch gekommen ist, das ist wieder sekundär. Das hängt von der Situation der einzelnen Gruppen ab.
Haben sich die Frauen auch berauscht?
Reichholf: Dort wo es historisch dokumentiert ist, waren die Frauen ganz fest mit dabei. Ich habe es Im Amazonas-Gebiet erlebt, wo ich längere Zeit bei Indianerstämmen verbracht habe. Da trafen sich die Gruppen, die ja eigentlich nur Großfamilien-Verbände darstellten, und feierten unter der Anleitung von Schamanen. Es gab anfangs ritualisierte Kämpfe, bei denen die Männer hart im Nehmen sein mussten. Damit ist die Aggression vermindert worden. Aber eine richtige Stimmung entstand erst, wenn sie das Spuckebier, das Chicha, in entsprechend großen Mengen getrunken hatten. Und das bereiteten die Frauen zu. Dabei wurde mit dem Speichelferment die Stärke in Zucker gespalten und in eine Gärung versetzt. Nach zwei bis drei Tagen entstand in der tropischen Wärme ein Chicha-Bier mit einem Gehalt von etwa zwei Prozent Alkohol. Davon haben Männer und Frauen große Mengen - etwa zehn Liter am Tag – getrunken und waren dann auch entsprechend „beschwingt“, wie nach ein paar Maß Bier.
Joseph H. Reichholf, 64, ist Evolutionsbiologe und Leiter der Wirbeltierabteilung an der Zoologischen Staatssammlung in München, sowie Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU-München. Mit seinem Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (Verlag S. Fischer, 2008) sorgte er für eine anhaltende Wissenschaftliche Kontroverse über die Ursprünge von Ackerbau und Zivilisation.
Dieses Interview erschien im Rahmen des profil-covers "Rausch und Ritus", Foto: dpa
Sie haben mit der These Aufsehen erregt, dass Getreide tausende Jahre vor der Erfindung des Brotbackens bereits für das Brauen von Bier verwendet wurde.
Reichholf: Den Ackerbau auf der Basis von Körnern konnte man nicht direkt erfinden, weil der Ertrag bei den zur Verfügung stehenden Wildgräsern zu unergiebig gewesen wäre. Wenn man aber die Körner, so wie das bei Beeren und Obst ja auch gemacht wurde, zu alkoholhaltigen Flüssigkeiten vergärt, dann kann das Gebräu von den Schamanen für ihre Riten eingesetzt werden und die Gruppe kommt in eine entsprechende Stimmung.
In den Geschichtsbüchern liest man aber das Gegenteil. Da steht beispielsweise, dass Bier wahrscheinlich zufällig erfunden wurde, indem feuchtes Brot zu gären begann.
Reichholf: Das ist höchst unwahrscheinlich. So etwas würde ja nur funktionieren, wenn man genug Getreide verfügbar hat. Bier wurde aber bereits getrunken als die Menschen noch nomadisch lebten. Und da gab es keine Möglichkeit, die große Menge an Körnern entsprechend aufzubewahren. Man muss Getreide luftig und trocken in Lagerhäusern aufbewahren. Das setzt voraus, dass die Menschen bereits sesshaft waren. Getreide als Nahrungsmittel in Tontöpfen aufzubewahren funktioniert nicht – darin verschimmelt es. In den großen Töpfen fanden gleich die Gärungsprozesse statt. Das kann man mit Hilfe der Molekulargenetik sehr schön nachweisen. Die ältesten Zeugnisse davon haben wir in Keilschrift aus der frühbabylonischen Zeit. Daraus geht hervor, dass in den allermeisten Haushalten Bier gebraut wurde – und zwar von den Frauen.
Das war dann aber mehr ein Lebensmittel und hatte keinen religiösen Zweck?
Reichholf: Genau. Das war gleichsam die Profanisierung des ursprünglichen Rituals, ganz ähnlich wie beim Rauchen. So lange Haschisch oder Tabak rar waren, wurde nur bei bestimmten Anlässen geraucht. Da war es noch verbunden mit Ritualen. Die Zigarette ist natürlich etwas völlig anderes als die Friedenspfeife der Indianer, oder auch die Opium oder Wasserpfeife, wo ja das Rauchen zelebriert wird. So ähnlich war das beim Alkohol. Er wurde anfangs bei rituellen Treffen verwendet. Erst später, als Wildgetreide in Kultur genommen und fast beliebig verfügbar war, wurde Bier alltäglich.
Dabei wurde auch das Brot entdeckt - es war ein spätes Nebenprodukt der Biergewinnung.
Was genau ist der Zweck eines Rausches, der ja für die frühen Gemeinschaften scheinbar so attraktiv und wichtig war?
Reichholf: Umherschweifende Nomadengruppen waren untereinander Konkurrenten um Fleisch und gute Jagdgründe. Beim Feiern jedoch werden sie zu Genossen. Zu Menschen, die gemeinsam genießen und damit stärker aneinander gebunden werden. Biologen haben den Aspekt betont, dass damit auch das Problem der Inzucht bekämpft wurde, das umher schweifende kleinere Gruppen immer haben. Bei den Treffen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Plätzen ging es wahrscheinlich auch um den genetischen Austausch. Ob das mehr oder weniger spontan erfolgte, weil man im Rausch nicht mehr so genau aufpasste, wer sich da mit wem einließ, oder ob es bei den Treffen zum direkten Frauentausch gekommen ist, das ist wieder sekundär. Das hängt von der Situation der einzelnen Gruppen ab.
Haben sich die Frauen auch berauscht?
Reichholf: Dort wo es historisch dokumentiert ist, waren die Frauen ganz fest mit dabei. Ich habe es Im Amazonas-Gebiet erlebt, wo ich längere Zeit bei Indianerstämmen verbracht habe. Da trafen sich die Gruppen, die ja eigentlich nur Großfamilien-Verbände darstellten, und feierten unter der Anleitung von Schamanen. Es gab anfangs ritualisierte Kämpfe, bei denen die Männer hart im Nehmen sein mussten. Damit ist die Aggression vermindert worden. Aber eine richtige Stimmung entstand erst, wenn sie das Spuckebier, das Chicha, in entsprechend großen Mengen getrunken hatten. Und das bereiteten die Frauen zu. Dabei wurde mit dem Speichelferment die Stärke in Zucker gespalten und in eine Gärung versetzt. Nach zwei bis drei Tagen entstand in der tropischen Wärme ein Chicha-Bier mit einem Gehalt von etwa zwei Prozent Alkohol. Davon haben Männer und Frauen große Mengen - etwa zehn Liter am Tag – getrunken und waren dann auch entsprechend „beschwingt“, wie nach ein paar Maß Bier.
Joseph H. Reichholf, 64, ist Evolutionsbiologe und Leiter der Wirbeltierabteilung an der Zoologischen Staatssammlung in München, sowie Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU-München. Mit seinem Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (Verlag S. Fischer, 2008) sorgte er für eine anhaltende Wissenschaftliche Kontroverse über die Ursprünge von Ackerbau und Zivilisation.
Dieses Interview erschien im Rahmen des profil-covers "Rausch und Ritus", Foto: dpa
Montag, 14. September 2009
Rausch und Ritus – Die Anfänge der Zivilisation
Forscher präsentieren eine neue Theorie über die Anfänge der Zivilisation. Schrift, Astronomie, Ackerbau und Medizin entstanden demnach als Nebenprodukte der Religion. Schamanen und Priester trieben die Wissenschaft aus sehr profanen Gründen voran – um ihre privilegierte Position in der Gesellschaft zu sichern.
Am Anfang war der Konjunktiv: Die Fähigkeit des Menschen zur Sprache war das entscheidende Werkzeug, um Möglichkeiten zu besprechen, die über eine konkrete Situation hinausgingen. Und so wurden schon an den urzeitlichen Lagerfeuern in einem Mix aus erinnerter Erfahrung und Fantasie die gerade aktuellen Themen erörtert. Etwa die Frage, wie das Wetter wird, ob die Sippe weiterziehen soll, oder warum die Menschen sterben.
Darin liegt der entscheidende evolutionäre Unterschied zu den Neandertalern. „Man geht zwar davon aus, dass diese auch sprechen konnten“, sagt Andre Gingrich, Direktor des Instituts für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. „Es handelte sich dabei aber eher um ein kontextgebundenes Geräuschemachen.“ Das reichte zwar, um einen Überfall auf ein Mammut zu organisieren, versagte aber, sobald es um komplexere Themen ging.
Dass sich die Menschen mit solchen zumindest grundsätzlich auseinandersetzen konnten, schuf offenbar bereits bei den Steinzeitmenschen ein ganz besonderes und überaus bedeutendes Berufsbild, das die Entwicklung des Homo sapiens über die Jahrtausende nachhaltig prägen sollte: den Schamanen. „Die Schamanen erweisen sich in allen Gesellschaften als die ersten intellektuellen Spezialisten“, sagt Gingrich. „Aus ihnen entstanden später die Priester, die Mediziner und die Wissenschafter.“ Und die Schamanen bildeten dank ihrer mannigfaltigen Entdeckungen einen wichtigen Motor der Zivilisation und Kultur.
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse so unterschiedlicher Fachgebiete wie Evolutionsbiologie, Archäologie und Kulturanthropologie liefern erstaunliche Einblicke in diesen frühen Prozess der menschlichen Entwicklung am Übergang vom Nomadentum zu den ersten Hochkulturen. Und sie belegen den enormen Einfluss, den dabei die Mythologie und die später daraus entstandenen Religionen hatten. Anders als traditionell angenommen stand dabei jedoch oft weniger der Glaube an ein Jenseits im Zentrum als recht profane Taktiken der Alltagsbewältigung und des ganz persönlichen Machterhalts von Schamanen, Priestern und Medizinmännern.
Der Begriff Schamane stammt ursprünglich aus Sibirien und leitet sich vom tungusischen Ausdruck „saman“ ab, was „der Wissende“ bedeutet. Ihre Hauptaufgabe war zunächst, mit den allgegenwärtigen Geistern klarzukommen. In vielen Völkern blieben die Mythologien auf Geistwesen beschränkt, in anderen kam der Glaube an bestimmte Gottheiten auf. Diese Entwicklung vollzog sich weltweit in den verschiedensten Varianten. „In der gesamten Geschichte der Anthropologie wurde jedoch noch nie ein Volk entdeckt, das keine Religion hatte“, so Gingrich. „Eine nicht religiöse Stammeskultur gibt es nicht, das ist eines der ältesten Grundbedürfnisse der Menschheit.“
Geister oder Naturgötter mussten günstig gestimmt werden, damit das ersehnte Jagdwild erschien, das Wetter hielt und die Toten nicht aus dem Jenseits zurückkehrten, um sich für erlittenes Unrecht zu rächen. Dazu entwickelten die Schamanen Rituale und Trancetechniken. „Wenn der Schamane in Trance fällt, reist er in die andere Welt“, erklärt die Wiener Ethnologin Gabriele Tautscher. „Sein Mund wird zum Sprachrohr eines Geistes oder der Ahnen.“ Meist waren dann Opfergaben nötig, um die Forderungen des Jenseits zu befriedigen. Bis heute bildet in schamanischen Gesellschaften ein Teil dieser Opfer auch gleichzeitig die Entlohnung der Schamanen.
Selbstversuch. Den Trancezustand erreichten Schamanen mithilfe verschiedener Techniken, meist aber unter Einnahme von Rauschmitteln, die im Rahmen von Ritualen mit dem Volk geteilt wurden. Die Drogen wurden von den Schamanen gesammelt und im Selbstversuch getestet. Unzählige verloren dabei ihr Leben. Noch heute rührt bei Naturvölkern ein großer Teil des Nimbus, der Schamanen umgibt, aus deren Mut, sich „mit den Geistern der Giftpflanzen“ einzulassen. Die Rezepturen für die Drogen bildeten zugleich das erste Geheimwissen, das für die übrigen Mitglieder des Stammes tabu blieb und nur an wenige Eingeweihte weitergegeben wurde. Den Schamanen kam auch bei Konflikten im Stamm eine wichtige Rolle zu: Sie fungierten als Mittler und Richter. Ihr geheimes Wissen verlieh ihnen die Macht dazu, erklärt der Wiener Kulturanthropologe Andreas Obrecht: „In Gesellschaften, in denen es kein bürgerliches Recht gibt und auch keine weltliche Gewalt, wird eben über die Androhung von Verhexung gesellschaftlich adäquates Verhalten hergestellt.“ Die Schamanen entwickelten außerdem schon früh Kenntnisse der Pharmakologie. Diese Medizinmänner und -frauen waren die ersten Botaniker und wussten, wo bestimmte Kräuter zu finden waren, und begannen bei einzelnen, besonders wichtigen Pflanzen auch mit deren Kultur, indem sie einen Vorrat an Samen und Setzlingen mitführten, wenn die Sippe weiterzog.
Einen entscheidenden Beitrag zum langsamen Übergang von den steinzeitlichen Gesellschaften mit ihren nomadisierenden Gruppen zur beginnenden Zivilisation leistete das Klima. Vor etwa 12.000 Jahren endete die letzte Eiszeit, und mit dem Holozän, der jüngsten geologischen Epoche der Erdgeschichte, entstanden über die zunehmende Erwärmung große, sehr fruchtbare Landstriche. Speziell begünstigt war der „Fruchtbare Halbmond“, der von Ägypten über den Süden der Türkei bis nach Persien reichte.
Die schamanistischen Zauberer entwickelten sich in dieser Umbruchzeit zum einflussreichen Stand der Priester, die aus ihrem über Jahrhunderte angehäuften Wissen Kapital schlugen. Sie behaupteten weiter das Privileg, näher an den Göttern zu sein, und leiteten daraus in manchen Kulturen, etwa in Ägypten, sogar einen Herrschaftsanspruch ab. Generell bewachten sie ihren Wissensschatz eifersüchtig und entwickelten Geheimsprachen und erste Schriftzeichen. Damit ging in den Hochkulturen meist eine starke patriarchalische Ausrichtung einher. Die Frauen, die bei den Naturvölkern noch selbstverständliche schamanische Aufgaben innegehabt hatten, wurden von den Priestern an den Rand gedrängt.
Und nach wie vor blieben die Priester der Motor der Wissenschaft – nicht zuletzt, um ihre Privilegien zu verteidigen und eventuelle Konkurrenten oder Neider auf Distanz halten zu können. So erarbeiteten sie sich Kenntnisse in Mathematik und Astronomie, schufen erste Kalender und waren damit etwa fähig, den Monsun auf eine Woche genau vorherzusagen. Und wer „den Regen beschwören kann“, der muss enorm gute Beziehungen „nach oben“ haben.
Mythologie. Während das Wissen über die schamanischen Mythen der Urzeit meist aus Funden wie Felszeichnungen, rituellen Figuren und Grabbeigaben sowie der Erforschung von Naturvölkern stammt, liefert die Geschichte Indiens die Möglichkeit, die mythologische Praxis authentisch zu studieren. Die erste geheimnisvolle Hochkultur war hier ab 2800 vor Christus im heutigen Pakistan entstanden und brachte mehr als 100 Städte mit einem Zentrum in Harappa hervor. Um 1800 vor Christus ging die Harappakultur jedoch abrupt zu Ende. „Die Menschen verschwanden ohne Anzeichen von Krieg oder Seuchen“, berichtet Ernst Prets vom Institut für die kulturelle und intellektuelle Geschichte Asiens in Wien. „Es wurden nicht einmal Gebeine oder Gräber gefunden. Die Städte versanken einfach im Sand.“
Etwa ab dieser Zeit wanderte über einen Zeitraum von mehreren hundert Jahren ein indo-iranisches Nomadenvolk vom Nordosten auf die indische Halbinsel ein und brachte die bis dahin unbekannten Pferde und Rinder mit. Für diese „Arier“ („die Edlen“), wie sie sich selbst bezeichneten, war Sesshaftigkeit verpönt. Deshalb sind auch keine architektonischen Spuren erhalten, dafür jedoch die Schriften des Veda: Dieses „Wissen“, so die wörtliche Übersetzung, ist kulturhistorisch von enormer Bedeutung, weil es – als einzigartige Kombination von Nomadentum und schriftlicher Überlieferung – Einblick gibt in die Denkwelt und Lebensweise einer Gesellschaft am Übergang zur Zivilisation. Die Texte sind Abschriften von mythischen Gesängen, die in der Zeit von 1700 bis 1100 vor Christus entstanden und laut Thomas Oberlies, Indologe an der Universität Göttingen, „mit einer Treue unverändert bewahrt wurden, wie wir sie bei kaum einem anderen Werk der Weltliteratur kennen“. Entsprechend gespannt versuchten die Experten, die uralten Texte zu übersetzen.
Als dies schließlich gelang, war die Ernüchterung groß. Den Wiener Indologen Leopold von Schröder, der sich Ende des 19. Jahrhunderts um Entschlüsselung bemühte, erinnerten die Texte zunächst an die Aufzeichnungen von Schwachsinnigen. „Man möchte oft geradezu daran zweifeln, ob man es noch mit verständigen Menschen zu thun hat“, notierte er 1887 als Zwischenbemerkung zu seiner Übersetzerarbeit am so genannten Soma-Mandala des Rigveda. In dem vedischen Dokument mit zahlreichen Wiederholungen, sprunghafter Dramaturgie und vielen Traumbildern wird ausführlich die Zubereitung der Rauschdroge Soma besungen. In jüngster Zeit setzte sich die Meinung durch, dass wohl die Gesänge selbst im halluzinogenen Soma-Rausch verfasst wurden. Die Zutaten der Droge wurden von vedischen Priestern gesammelt, gepresst und schließlich in Butter aufgelöst. Die heilige Essenz stand im Zentrum zahlreicher Rituale und Volksfeste.
Die Kombination von Riten und Räuschen zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Völker – und stellt nach Ansicht vieler Forscher einen Keim der Zivilisation dar. Für den Münchner Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf hängt sogar der Prozess des Sesshaftwerdens der Menschen, der ab etwa 6000 vor unserer Zeitrechnung begann und um 3500 vor Christus zur Bildung der ersten größeren Siedlungen – beispielsweise in Uruk, Jericho und Babylon – führte, unmittelbar damit zusammen. Den Auftakt dafür bildeten laut Reichholf regelmäßige Treffen noch nomadisierender Menschen an bestimmten Kultplätzen. Die Treffpunkte wurden von Schamanen mittels Sternenkalender bestimmt, und weil die wilden Gesellen einander wohl zunächst nicht immer wohlgesonnen waren, trugen die Drogen möglicherweise zum Spannungsabbau bei. Gemeinsames Feiern und Berauschen war demnach Voraussetzung für das, was in modernen Manager-Seminaren gerne als „Community-Building“ bezeichnet wird.
Manche Kulturen schufen für ihre Rituale eindrucksvolle Kulissen. Beispiele dafür sind das englische Stonehenge oder das erst in den neunziger Jahren vom deutschen Archäologen Klaus Schmidt in seiner Bedeutung erkannte Bergheiligtum von Göbekli Tepe im Süden der Türkei. Schmidt fand heraus, dass es sich dabei um die älteste Tempelanlage der Welt mit einem Alter von 11.500 Jahren handelt. Bis heute sind nur wenige Prozent der gigantischen Anlage freigelegt. Sie gilt als Jahrtausendfund, weil bislang die Ansicht vorherrschte, dass eine Gesellschaft von Jägern und Sammlern gar nicht in der Lage sein könnte, ein derartiges Monument zu errichten – geschweige denn die dafür nötigen Arbeiter in Zeiten vor der Praxis des Ackerbaus zu ernähren. Schmidt schätzt, dass etwa 500 Männer nötig waren, um die zehn bis 20 Tonnen schweren Pfeiler aus den Steinbrüchen zum Bauwerk zu transportieren. Einzelne Teile wiegen bis zu 50 Tonnen. Schmidt geht davon aus, dass Göbekli Tepe das Zentrum eines schamanischen Totenkults war, in dem sich in regelmäßigen Abständen die nomadischen Stämme zu ihren Riten trafen. In den Pfeilern finden sich eingeritzte Figuren von Menschen mit Tierköpfen, aber auch sehr naturnahe gestaltete Beutetiere wie Auerochsen, Gazellen und Wildschweine.
Bierbrauer. Reichholf hält besonders die dort ebenfalls vorgefundene Darstellung des Urgetreides Einkorn für bemerkenswert. „Im bergigen Umfeld bietet sich eigentlich keine Möglichkeit des Anbaus von Getreide, zudem war es erst tausende Jahre später über die Entwicklung des Ackerbaus möglich, ausreichend Brot für die Ernährung der Menschen herzustellen“, argumentiert Reichholf. Er hält es deshalb für wesentlich wahrscheinlicher, dass das Wildgetreide von den einzelnen Stämmen mitgebracht, an Ort und Stelle zu Bier vergoren und dann im Rahmen schamanistischer Feste getrunken wurde. (Siehe Interview)
Da jeder Stamm für die gemeinsamen Feiern diese schmackhaften Wildgräser sammelte und die besten Körner mitbrachte, dürfte auch die Heranzucht und Kreuzung von ertragreicheren Sorten gefördert worden sein. Reichholf denkt, dass erst dadurch der eigenständige Anbau von Getreide rentabel wurde – zunächst im näheren Umkreis der Kultstätten für das Brauen von Bier, erst viel später, nachdem geeignete Häuser zur Lagerung des Getreides zur Verfügung standen, auch für Brot. Demnach wären der schamanistische Hang zu Rausch und Riten auch ein wesentlicher Förderer der so genannten „neolithischen Revolution“, die mit der Sesshaftwerdung des Menschen, mit Ackerbau und Vorratshaltung die Ausbildung der Agrargesellschaften und damit das Ende der Steinzeit markierte.
Mit diesen Thesen, die das bisherige Bild der historischen Entwicklung massiv infrage stellen, steht Reichholf auch im Mittelpunkt einer Reihe von Veranstaltungen, die für kommenden November in Wien geplant sind. „Wir stimmen in einigem nicht überein, haben ihn aber eingeladen, um im Detail darüber zu diskutieren“, sagt Sven Tost, Experte für Alte Geschichte und Altertumskunde an der Universität Wien.
Privilegien. Mit dem Übergang zur Agrargesellschaft wandelten sich die Schamanen allmählich zu Priestern, die ihr über viele Generationen erworbenes Wissen und den exklusiven Kontakt zu den Göttern nun für Privilegien des Alltagslebens nützten. In Indien wurde aus den Erben der nomadisierenden Veden-Schamanen die Kaste der Brahmanen, die für sich und noch vor der Kaste der Krieger und Fürsten den ersten Rang in der Gesellschaftshierarchie beanspruchte. Eifersüchtig wachten sie über ihre Geheimnisse – und darüber, dass diese auch solche blieben. Auf die Entwendung eines brahmanischen Schriftstücks stand gar die Todesstrafe. Als ihre hauptsächliche Aufgabe sahen die Priester vor allem die Bewahrung ihrer Reinheit sowie die Durchführung der Riten. Dass die Gesänge und Zeremonien für die anderen Teilnehmer verständlich blieben, war dabei gar nicht erwünscht. „Eher im Gegenteil“, sagt der Wiener Religionsphilosoph Adolf Holl. „Priester mussten immer versuchen, die normalen Leute auszuschließen, um selbst ihre Exklusivität zu bewahren.“
Auch aus diesem Bedürfnis heraus entwickelte sich eine weitere zivilisatorische Innovation, nämlich die Schrift. Sie wurde ebenfalls von Priestern begründet. Priester schrieben naturgemäß für andere Priester und verwendeten ihre Schriftzeichen bald auch für wirtschaftliche Tätigkeiten – etwa für die Organisation des Handels in den Tempelbezirken. Die ersten Texte waren demnach entweder religiöse Quellen oder kaufmännische Besitzurkunden und Steuer- oder Abgabenbescheide.
Mit der Zurschaustellung des – nicht zuletzt aus der privilegierten Position resultierenden – eigenen Wohlstands liefen die Priester jedoch auch Gefahr, selbst zur Zielscheibe von Angriffen zu werden. „Der Priesterjob mit seinem hohen Status war immer eine Gratwanderung“, erklärt der Anthropologe Gingrich. „Einerseits mussten die Priester ihre Aktivitäten als lebensnotwendig darstellen, andererseits mussten sie Acht geben, dass sie nicht als Schmarotzer in Verruf kamen, wenn sie zu viel in die eigene Tasche streiften.“
Daraus konnte durchaus die Gefahr einer Konkurrenzreligion erwachsen. Als beispielsweise der Aufwand für die von den Brahmanen Indiens regelrecht inflationär durchgeführten Tieropfer für die Bevölkerung nicht mehr tragbar war, entstanden als Gegenbewegung einige radikalasketische Bewegungen sowie der Buddhismus, der einen wesentlich rationaleren Umgang mit Opferritualen verfolgte.
Doch fast scheint es, als ob kein Irrweg zu extrem sein könnte, ohne dass daraus letztlich nicht doch zivilisatorischer Nutzen entstünde. Über die minutiöse Planung und Erprobung der Tieropfer gelangten die Brahmanen nämlich zu wertvollen Kenntnissen über die Organfunktionen, die der indischen Kultur zu einem weiteren Spitzenplatz im Wettstreit der Zivilisationstechniken verhalf: Hier entstand das weltweit mit Abstand älteste Lehrbuch zur Chirurgie. Indische Ärzte führten bereits hochkomplizierte Eingriffe durch – beispielsweise die Operation des grauen Stars am offenen Auge –, als im keltischen Europa noch die Druiden mit ihren Rasseln und Trommeln die Geister um Vermittlung anflehen mussten.
Diese Story ist Mitte August als profil-cover erschienen.