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Mittwoch, 23. September 2009

„Brot war ein Nebenprodukt des Bierbrauens“

Der Münchner Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf über die ursprüngliche Verwendung von Getreide und die Sesshaft-Werdung des Menschen.



Sie haben mit der These Aufsehen erregt, dass Getreide tausende Jahre vor der Erfindung des Brotbackens bereits für das Brauen von Bier verwendet wurde.


Reichholf: Den Ackerbau auf der Basis von Körnern konnte man nicht direkt erfinden, weil der Ertrag bei den zur Verfügung stehenden Wildgräsern zu unergiebig gewesen wäre. Wenn man aber die Körner, so wie das bei Beeren und Obst ja auch gemacht wurde, zu alkoholhaltigen Flüssigkeiten vergärt, dann kann das Gebräu von den Schamanen für ihre Riten eingesetzt werden und die Gruppe kommt in eine entsprechende Stimmung.

In den Geschichtsbüchern liest man aber das Gegenteil. Da steht beispielsweise, dass Bier wahrscheinlich zufällig erfunden wurde, indem feuchtes Brot zu gären begann.

Reichholf:
Das ist höchst unwahrscheinlich. So etwas würde ja nur funktionieren, wenn man genug Getreide verfügbar hat. Bier wurde aber bereits getrunken als die Menschen noch nomadisch lebten. Und da gab es keine Möglichkeit, die große Menge an Körnern entsprechend aufzubewahren. Man muss Getreide luftig und trocken in Lagerhäusern aufbewahren. Das setzt voraus, dass die Menschen bereits sesshaft waren. Getreide als Nahrungsmittel in Tontöpfen aufzubewahren funktioniert nicht – darin verschimmelt es. In den großen Töpfen fanden gleich die Gärungsprozesse statt. Das kann man mit Hilfe der Molekulargenetik sehr schön nachweisen. Die ältesten Zeugnisse davon haben wir in Keilschrift aus der frühbabylonischen Zeit. Daraus geht hervor, dass in den allermeisten Haushalten Bier gebraut wurde – und zwar von den Frauen.

Das war dann aber mehr ein Lebensmittel und hatte keinen religiösen Zweck?

Reichholf: Genau. Das war gleichsam die Profanisierung des ursprünglichen Rituals, ganz ähnlich wie beim Rauchen. So lange Haschisch oder Tabak rar waren, wurde nur bei bestimmten Anlässen geraucht. Da war es noch verbunden mit Ritualen. Die Zigarette ist natürlich etwas völlig anderes als die Friedenspfeife der Indianer, oder auch die Opium oder Wasserpfeife, wo ja das Rauchen zelebriert wird. So ähnlich war das beim Alkohol. Er wurde anfangs bei rituellen Treffen verwendet. Erst später, als Wildgetreide in Kultur genommen und fast beliebig verfügbar war, wurde Bier alltäglich.
Dabei wurde auch das Brot entdeckt - es war ein spätes Nebenprodukt der Biergewinnung.

Was genau ist der Zweck eines Rausches, der ja für die frühen Gemeinschaften scheinbar so attraktiv und wichtig war?

Reichholf: Umherschweifende Nomadengruppen waren untereinander Konkurrenten um Fleisch und gute Jagdgründe. Beim Feiern jedoch werden sie zu Genossen. Zu Menschen, die gemeinsam genießen und damit stärker aneinander gebunden werden. Biologen haben den Aspekt betont, dass damit auch das Problem der Inzucht bekämpft wurde, das umher schweifende kleinere Gruppen immer haben. Bei den Treffen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Plätzen ging es wahrscheinlich auch um den genetischen Austausch. Ob das mehr oder weniger spontan erfolgte, weil man im Rausch nicht mehr so genau aufpasste, wer sich da mit wem einließ, oder ob es bei den Treffen zum direkten Frauentausch gekommen ist, das ist wieder sekundär. Das hängt von der Situation der einzelnen Gruppen ab.

Haben sich die Frauen auch berauscht?


Reichholf: Dort wo es historisch dokumentiert ist, waren die Frauen ganz fest mit dabei. Ich habe es Im Amazonas-Gebiet erlebt, wo ich längere Zeit bei Indianerstämmen verbracht habe. Da trafen sich die Gruppen, die ja eigentlich nur Großfamilien-Verbände darstellten, und feierten unter der Anleitung von Schamanen. Es gab anfangs ritualisierte Kämpfe, bei denen die Männer hart im Nehmen sein mussten. Damit ist die Aggression vermindert worden. Aber eine richtige Stimmung entstand erst, wenn sie das Spuckebier, das Chicha, in entsprechend großen Mengen getrunken hatten. Und das bereiteten die Frauen zu. Dabei wurde mit dem Speichelferment die Stärke in Zucker gespalten und in eine Gärung versetzt. Nach zwei bis drei Tagen entstand in der tropischen Wärme ein Chicha-Bier mit einem Gehalt von etwa zwei Prozent Alkohol. Davon haben Männer und Frauen große Mengen - etwa zehn Liter am Tag – getrunken und waren dann auch entsprechend „beschwingt“, wie nach ein paar Maß Bier.


Joseph H. Reichholf, 64, ist Evolutionsbiologe und Leiter der Wirbeltierabteilung an der Zoologischen Staatssammlung in München, sowie Professor für Ökologie und Naturschutz an der TU-München. Mit seinem Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (Verlag S. Fischer, 2008) sorgte er für eine anhaltende Wissenschaftliche Kontroverse über die Ursprünge von Ackerbau und Zivilisation.
Dieses Interview erschien im Rahmen des profil-covers "Rausch und Ritus", Foto: dpa

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