Jeder Mensch ist ein Zoo. Wir beherbergen eine Unzahl von Lebewesen, die meisten davon im Darm sowie auf unserer Haut. Die Bedeutung dieses "Mikrobioms" für unsere Gesundheit erweist sich immer mehr als eine der wichtigsten und revolutionärsten Erkenntnisse der jüngeren wissenschaftlichen Forschung. Hier liegt offenbar der Schlüssel für eine stabile Balance im Organismus.
Dies ist umso wichtiger, als wir derzeit eine weltweite Epidemie von Krankheiten erleben, die allesamt mit gestörten Immunfunktionen zu tun haben. Es gibt hunderte Arten von Autoimmun-Erkrankungen, von denen der Großteil vor wenigen Jahrzehnten noch gar nicht bekannt war. Ein Drittel der Bevölkerung leidet an Allergien. ADHS, Autismus und andere Entwicklungsstörungen sind von Einzelfällen zum Massenphänomen geworden.
Das Mikrobiom entpuppt sich als wichtigster Partner unseres Immun- und Nervensystems. Und wenn zwischen diesen drei Säulen unserer Gesundheit die Chemie stimmt, so ist das offenbar die beste Versicherung für ein langes Leben ohne derartige chronische Krankheiten. (Dies ist übrigens die Kernthese meines aktuellen Buches "Die Hygienefalle - Schluss mit dem Krieg gegen Viren und Bakterien".)
Mitarbeit gegen Kost und Quartier
Je diverser und reichhaltiger unser Mikrobiom aufgebaut ist, desto stabiler ist es - und umso mehr nützliche Eigenschaften unserer Mitbewohner können wir nutzen. Ein gesunder Mensch beherbergt zwischen 2000 und 3000 verschiedene Bakterienarten, die alle ihre eigenen Fähigkeiten mit in die Lebensgemeinschaft ein bringen. Im Lauf der Evolution hat unser Organismus ja eine ganze Unzahl an Kompetenzen eingebürgert. Wenn Bakterien bestimmte Vitamine oder Hormone erzeugen können, wenn sie Pilze in Schach halten und das aggressive Immunsystem beruhigen können, wozu sollte dann Energie verpulvert werden, diese Fähigkeiten selbst zu entwickeln. Da war es doch einfacher, den Bakterien einen Lebensraum zu reservieren und mitarbeiten zu lassen.
Wir stehen derzeit noch ganz am Anfang, die Unmenge an Symbiosen zu verstehen, die wir mit unseren Mitbewohnern eingegangen sind. Klar ist allerdings schon jetzt, dass das alte Bild der "schmarotzenden und krank machenden Keime" falscher nicht sein könnte. 99,9% aller Bakterien sind nützlich und harmlos.
Die Zusammensetzung der Darmbakterien ist während der ersten drei Lebensjahre recht variabel und stabilisiert sich erst dann in ein ähnliches Muster wie es auch bei Erwachsenen vorherrscht. Dennoch ist jedes Mikrobiom so einzigartig wie ein Fingerabdruck, sogar eineiige Zwillinge können vollständig unterschiedliche Kolonisierungen ihres Darms haben.
Bakterienmuster bleiben ein Leben lang
Die Besiedlung des kindlichen Darms ist ein komplexer Prozess und hängt von vielen Faktoren ab. Kaiserschnitt-Kinder haben eine ganz andere Kompostion, als Babys, die im Geburtskanal der Mutter ihre Pionier-Bakterien mitnehmen. Die ersten Siedler haben jedenfalls einen enormen Startvorteil und manche Muster bleiben oft ein Leben lang erhalten. Insofern erscheint es sinnvoll, bestimmte Defizite der Kaiserschnitt-Geburt auszugleichen. Aber auch bei vaginal geborenen Kindern aus unseren Breiten ist die Bakterienvielfalt im Vergleich zu Kindern aus Entwicklungsländern deutlich unter entwickelt. Stuhlproben der Kinder von indigenen Amazonas-Völkern ergaben eine beinahe doppelt so große Vielfalt ihrer Darmbewohner.
Grace Aldrovandi wollte wissen, wie groß der Einfluss des Stillens bei der Besiedlung des Darms ist. Die Antwort in einem Wort lautet: enorm.
Im Schnitt erhielten die Babys 27,7 Prozent ihrer Darmbakterien unmittelbar über die Muttermilch transferiert. Weitere 10,4 Prozent stammten vom Gebiet rund um die Brustwarze. Die Übernahme der Bakterien war durchaus Dosis-abhängig. Je häufiger und länger die Babys gestillt wurden, desto mehr der mütterlichen Bakterien siedelten sich im kindlichen Darm an. Schließlich ergab sich – im Vergleich des Bakterien-Profils von zufällig zugeordneten Müttern – ein eindeutiges Bild der Zusammengehörigkeit der mütterlichen Bakterien mit der Darmflora des eigenen Kindes.
Wenn Mütter zu stillen aufhörten, auf Flaschennahrung umstiegen oder zunehmend feste Nahrung verfütterten, änderte sich die Komposition der Bakterien im kindlichen Darm dramatisch. Dennoch blieben bestimmte Grundmuster des ursprünglich angelegten Bakterienprofils stabil.
"Unsere Arbeit zeigt, dass sich im Lauf der ersten sechs Lebensmonate ein komplexes Netzwerk von Bakterien im kindlichen Darm bildet", erklärt Aldrovandi. "Muttermilch-Bakterien, die den Darm besiedeln bereiten den Boden für nachfolgende Bakterien, die sich ansiedeln. Daraus ergibt sich eine Art Fingerabdruck, der bis ins Erwachsenenalter erhalten bleibt."
Von einigen wenigen Bakterien ist bereits konkret bekannt, welche gesundheitliche Vorteile sie bieten. In der Milch enthaltene Veillonella und Rothia-Stämme schützen beispielsweise vor Asthma. Bei Kindern, die nur kurz oder gar nicht gestillt wurden, ergab sich ein deutlicher Überhang der Gattung der Bacteroidaceae, die in Studien bei Kindern und Erwachsenen mit Übergewicht ebenfalls vorherrschen.
"Unsere Resultate sind jedenfalls eine starke Unterstützung für die geltende WHO-Empfehlung, dass während der ersten sechs Lebensmonate ausschließlich und bis zum Ende des ersten Lebensjahres zusätzlich gestillt werden sollte", schließen die Autoren ihre Arbeit.
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