Noch immer weiß niemand eine Antwort auf die
alte Frage, warum wir gähnen.
Gähnen ist hoch infektiös. Keine andere Tätigkeit
ist so ansteckend, regt derart zur unwillkürlichen Nachahmung an. Es kann
genügen, darüber zu lesen, und schon erfolgt das berühmte „tiefe Einatmen mit
weit geöffneter Stimmritze, typischerweise mit geöffnetem Mund, oft begleitet
von Bewegungen der Arme“, wie das Gähnen im Lexikon beschrieben wird.
Wer
andere gähnen sieht, gähnt selbst. Blinde gähnen, wenn sie Gähngeräusche hören.
Wenn sie jetzt gähnen müssen und ein Hund anwesend ist, dann gähnt er
wahrscheinlich mit. Das ist empirisch belegt. Biologen der Universität London
ließen 29 Hunde von Versuchspersonen angähnen. 21 Hunde gähnten zurück. Das ist
eine Rückgähnquote von fast 75 Prozent. Allerdings war es dafür notwendig,
richtig echt zu gähnen. Wenn die Vorgähner nur den Mund öffneten, ohne
typisches Gähngeräusch, ließ sich kein einziger Hund inspirieren.
Die Wissenschaft vom Gähnen (Oszitation) heißt
Chasmologie. Unzählige Chasmologen haben sich im Lauf der Jahrhunderte dem
Geheimnis der Oszitation gewidmet. Doch trotz aller Anstrengungen ist es ihnen
bisher nicht gelungen, den Kern ihrer Forschung aufzuklären: Warum gähnen wir
eigentlich. Was hat das für einen Zweck?
Sollte Gähnen eine soziale Bedeutung
haben? Der deutsche Ethnologe Karl von den Steinen stellte 1890 seine These
vor, dass ansteckendes Gähnen die Müdigkeit in einer Gruppe verteilt, um den
Schlafrhythmus zu synchronisieren. Doch genügt dafür nicht auch die Dämmerung?
Etwa zur selben Zeit spekulierten Mediziner, dass
Abfallprodukte von Bakterien im Verdauungstrakt das Gähnen hervorrufe. Andere
hielten es für Gymnastik der Atemorgane oder für eine Methode dem Gehirn mehr
Sauerstoff zu verschaffen. Das wurde jedoch in einem Versuch widerlegt, in dem
eine Gruppe reinen Sauerstoff zum Atmen erhielt. Diese Probanden gähnten jedoch
genauso oft wie die anderen.
Eine neue These des US-Biologen Andrew Gallup
besagt, dass Gähnen dazu dient, das Gehirn zu kühlen. Zur Untermauerung
beobachtete Gallup Wellensittiche, die bei Wärme signifikant häufiger gähnten.
Doch die Fachwelt reagierte skeptisch. Für Vögel mag die Kühlungstheorie ja
noch einleuchten, Menschen haben jedoch Schweißdrüsen, die wesentlich
effizienter Kühlung verschaffen.
Und was ist mit den Giraffen? - Während fast alle
kaltblütigen und warmblütigen Tiere nach demselben Muster gähnen, egal ob
Fische, Vögel oder Säugetiere, bleibt ausgerechnet die Giraffe abstinent. So
lange man auch wartet, sie gähnt nicht.
Und somit bleibt die Chasmologie ein
schwieriges, oft auch frustrierendes Fach. Zumal auch die Forschungsförderung
auf niedrigem Niveau dümpelt. Denn während exzessives Gähnen lästig sein mag,
so ist es doch nicht gefährlich. Und im Normalfall lässt es sich damit gut
leben. Auch wenn nach wie vor niemand weiß, worum es dabei gähnt.
Dieser Artikel erschien im Rahmen der Coverstory "Wach im Schlaf" des Nachrichtenmagazins profil. (Foto: Jim Champion/Wikimedia Commons)
Vermutlich gähnen Giraffen nicht, weil sie aufgrund ihres grossen Höhenunterschiedes zwischen Gehirn und Rumpf ein ganz anderes Blutdruck- und Sauerstoff-Management haben als alle anderen vergleichbaren Tiere.
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