Bert Ehgartner live

Bücher und Filme - Rezensionen

Robyn Lumen: Silberblut - Das Flüstern des Lichts

Ein 17-jähriger Wiener namens Arjun - biologisches Resultat einer romantischen Affäre seiner Hippie-Mutter mit einem sehr hübschen Ausländer - lernt bei einem Tanzevent im Volksgarten die 13-jährige Mia kennen. Sie hat einen seltsamen Anhänger um den Hals, der aussieht wie ein in Glas gebannter Riesenblutstropfen. Mia sagt, das sei ein Elixier - ein Geheimnis. Und Arjun witzelt darüber, ob sie wohl zu einer Vampir-Sekte gehört.
Arjun wird Mia nicht mehr los. Sie himmelt ihn an, verfolgt ihn regelrecht. Taucht an seinem Arbeitsplatz auf, einem Innenstadtlokal wo Arjun kellnert. Es entwickelt sich eine eher einseitige Romanze. Mia bittet Arjun schließlich eindringlich mitzukommen. Sie muss ihm etwas zeigen, bei dem es "um Leben und Tod geht". Und sie hat damit nicht übertrieben, denn wenig später ist Mia tatsächlich tot.

Arjun ist auch nicht ganz unkompliziert. Er hat seit vielen Jahren eine Therapeutin. Cäcilie Schneider, die er cool mit CS abkürzt. Arjun hatte vor Jahren im Sommerurlaub einen Unfall. Ums Haar wäre er in einem Fluss ertrunken. Dabei ist er in eine lange hyperreal wirkende Halluzination abgeglitten - und seither träumt er von einer Wasserfrau, die ihm immer wieder erscheint. Er nennt sie Yuja und spricht mit ihr. Grund genug, um seiner Therapeutin endlosen Gesprächsstoff zu liefern.

In der Folge materialisiert sich Yuja, seine Wasserfrau. Und damit sind wir gerade erst am Anfang einer vollständig irrwitzigen Story, die in ein Universum einführt - so riesig und originär, wie es davor vielleicht in "Herr der Ringe" oder "Game of Thrones" ausgebreitet wurde.

Robin Lumen geht in ihrem Werk aufs Ganze: sie baut diese Welt mit einer Konsequenz auf, dass es der Leserschaft einiges abverlangt. Denn wir werden Zeugen eines monumentalen Kampfes, der sich in Dimensionen abspielt, die für normale Menschen - hier "Morags" genannt - unsichtbar sind. Doch Mia, Arjun - und auch Yuja switchen in verschiedenen Entitäten durch "Aerilea" das Parallel-Universum, dass sich in Schichten aus lichter Materie um die Erde legt. Wir erfahren von den Absichten der "Moriin", die Menschen mutwillig abhängig machen und in diese Welt ziehen können.
Wir lernen so viele weitere Bewohner Aerileas kennen, dass einem zeitweise schwindlig wird. Doch zum Glück gibt es ein drei Seiten langes Glossar der verschiedenen Geschöpfe - und bald fühlt man sich richtig heimisch in Lumens Fantasy-Welt. Vor allem auch deshalb, weil die Autorin es unglaublich gut versteht, amüsant und packend zu erzählen. Speziell die Dialoge mit ihrer beiläufigen Ironie sind ein wahrer Genuss.
Arjun weigert sich lange Zeit, den Wahnsinn, in den er mehr und mehr hinein gezogen wird, zu akzeptieren. Und das ist - konsequent aus seiner Perspektive betrachtet - stellenweise extrem lustig und immer spannend. Speziell wenn es um Arjuns erotische Verwicklungen geht, denen er inmitten aller Todesgefahren ständig ausgesetzt ist.
Silberblut - Das Flüstern des Lichts - ist ein großes Lese-Abenteuer, das unglaubliche Freude macht.


David Sieveking: Eingeimpft (Dokumentarfilm)

Was wurde nicht alles über diesen Film geschimpft, speziell in den deutschen Medien. Die selbst ernannten "Skeptiker" und die GWUP-Partie, die normalerweise mit Eso- und UFO-Abwehr, sowie Homöopathie-Bashing ihre Zeit verplempern, versuchten den Film in Grund und Boden zu stampfen: Nicht mit wissenschaftlichen Argumenten, versteht sich, sondern mit moralischen.
Da kommt ein Filmemacher und stellt sich Fragen zum Impfen! Wo kommen wir da hin, wenn das Schule macht? Das ist gemeingefährlich! Wo doch beim Impfen längst alles geklärt ist! Durch die guten Behörden und die gute Wissenschaft.
Den Gipfel der Peinlichkeit personifizierte eine Redakteurin eines ARD-Magazins, die sich nicht entblödete, einen flammenden Appell in die Kamera zu halten, diesen Film bloß nicht anzusehen.
Es ist wirklich ein Jammer mit dieser Art von Wissenschaft und von Wissenschaftsjournalismus!

Kein Bereich der Wissenschaft hat ein besseres Image als das Impfen. Und das bewirkt offenbar zweierlei: Konzerne versuchen dieses gute Image für ihre neuen Impfungen zu kapern und gutes Geld damit zu machen. Die befreundeten und von Lobbyisten umschwirrten Behörden geben dem gerne nach. Denn jede Krankheit ist schlecht und jede Impfung ist gut. Und somit ist der Impfkalender regelrecht explodiert und die Babys erhalten heute zwei bis dreimal so viele Impfungen wie in den 1980er Jahren.
Impfgegner wurden über geschicktes Framing entweder als Verschwörer oder Betrüger (Wakefield) hingestellt. Gruppenzwänge wie z.B. die "Herdenimmunität" und das hehre Ziel, gewisse Krankheiten auszurotten, nahmen den Journalismus in die Pflicht. Impfkritik wurde zunehmend zum Schimpfwort. Und die so genannten Qualitätsmedien spielten brav und untertänig mit.

Der Film steigt genau hier ein. Bei David Sieveking haben alle diese Argumente gefruchtet. Er ist zu Beginn des Films ein vollkommener Impfbefürworter. Seine Partnerin Jessica hingegen ist ziemlich skeptisch. Und als die Frage aufkommt, was nun zu tun wäre, als das erste Baby kommt - spitzt sich die Sache zu. Und David zeigt, wie er einmal zu Jessica sagt "dass ein Dokumentarfilmer recherchieren kann".

David - und mit ihm sein Film - geht zahlreichen Fragen nach und führt die Zuseher in alle möglichen Richtungen. Zu den Behörden, einem impfkritischen Antrophosophen, den Herstellern der Sechsfachimpfung, zu Wissenschaftlern nach Afrika und Dänemark, und mehrfach zu Impfärzten - um nun endlich mal Taten beim eigenen Kind zu setzen.

Der Film hat tragische und berührende Momente. Er zeigt, wie schwer diese Fragen zu beantworten sind. Der Film hat auch lustige Momente - und absurde, beispielsweise als David den Spielplatz absucht, um zu sehen, ob dort möglicherweise Fixernadeln im Sand versteckt sind, welche eine Hepatitis B auslösen könnten.

Insgesamt ist der Film eine erfrischende, erfreuliche - und extrem persönliche Spurensuche, die auch den Zusehern hilft, sich eine eigene Meinung zu bilden. Es wird geweint und gelacht - und übers Impfen nachgedacht. Auf einem Niveau, das jenes der meisten Medienberichte um viele Stufen übersteigt.

PS: Unter dem gleichen Titel gibt es auch ein Buch zum Film, das viele Hintergrund-Informationen bietet.




Günter Wels: Edelweiss (Roman)

Begeistert hat mich der Autor Günter Wels allein schon mit der peniblen Recherche der historischen Ereignisse inklusive unzähliger Details - von der Ausstattung der Autos, der Zusammenstellung der Mittagsmenüs bis zum Geschmack der Kriegsbiere. Eine eindrucksvolle Literaturliste am Ende des 400 Seiten Romans zeigt, wie gründlich Wels das Szenario der letzten Kriegstage studiert hat.

Er protzt jedoch nicht mit diesem Wissen. Es fließt so nebenher, stört nie den Handlungsablauf, sondern macht das Ambiente stimmig. Noch nie habe ich etwas gelesen, dass mir diese Wochen vor dem Untergang des Dritten Reichs so plastisch nahe gebracht hat.

Man ist mitten drin, als Fritz Mahr - unter seinem Decknamen "Edelweiss" - mit dem Fallschirm in Bayern abspringt: Als Agent der Alliierten will er sein Mögliches dazu beitragen, das Nazi-Regime zu beseitigen. Mit ihm sein Freund Willi sowie der zwielichtige Sigmund. Mahrs Odyssee führt ihn unter anderem nach Salzburg, Bad Ischl, Attnang Puchheim und Linz. Immer auf der Suche nach Verbündeten - und gejagt von der SS. Sein Auftrag lautet, herauszufinden, was es mit Hitlers ominöser Alpenfestung auf sich hat.

Der zweite Handlungsstrang spielt während der ersten warmen Frühlingstage des Jahres 2011 in Wien. Christine Maurer, Inhaberin einer kleinen Buchhandlung, macht harte Zeiten durch. Ihr 18-jähriger Sohn Timo ist beim Studium ins Umfeld der "Identitären Bewegung" geraten und wird ihr zunehmend fremd. Obendrein ist ihr Vater Carl Maurer, pensionierter Professor für Wirtschaftswissenschaft, gestürzt und liegt in schlechtem Zustand im Krankenhaus. Christine muss den Hund ihres Vaters übernehmen und entdeckt auf dessen Schreibtisch drei eng beschriebene Bücher, welche eine ihr vollständig unbekannte Lebensgeschichte Carl Maurers offenbaren.

Ihr Vater ist Fritz Mahr - und auch Willi lebt noch. Christine macht sich auf den Weg, die Fäden zusammen zu führen.

Small Town Killers (Film)

Die Grundidee - frustrierte Männer wollen ihre bösen Frauen umbringen lassen - ist nicht gerade taufrisch. Ich hoffte auf die dänische Kunst der Farce, des Wortwitzes und der Tabubrüche. Doch hier bricht höchstens der Zuseher zusammen unter der Masse von vorhersehbarem Quatsch.

Die Charaktere sind so lebensecht als stammten sie aus einem 30-minütigen Brainstorming. Am besten sind zeitweise noch die Dialoge, weil sie manchmal abschweifen, oder ins absolut Ordinäre kippen. Dies ist jedoch auch kein durchgehendes Stilmittel, sondern man hat eher den Eindruck, dass es den Drehbuchautor halt manchmal überkam - oder er beim Schreiben illuminiert war - oder die Schauspieler improvisiert haben.

Die Art wie die beiden Killer skizziert sind, hat schon etwas extrem Comic-artiges. Doch es ist ein Comic - so ähnlich wie die neuen Asterix-Hefte: Es ähnelt optisch den genialen Vorlagen - doch es fehlt jeglicher originäre Witz oder Charme.

Regisseur und Drehbuchautor Ole Bornedal hatte bisher einen einzigen guten Film: Das war sein Debut "Nightwatch" aus dem Jahr 1994. Doch gleich das englisch-sprachige Remake ging gehörig schief. Danach zerstörte er fast jeden Nachfolgefilm. Am besten ist noch der Thriller "Just Another Love Story" aus dem Jahr 2007, für den Bornedal ebenso das Drehbuch geschrieben hat. Doch er vermag es nicht, den Charakteren Leben einzuhauchen. Die Personen sind zudem meist extrem unsympathisch. Das ist auch eines der großen Mankos bei Small Town Killers.

Die Schauspieler wären an sich großartig gewesen. Nicolas Bro und Ulrich Thomsen - auch Lene Maria Christensen haben in so vielen guten Filmen mitgespielt. Doch dort haben andere Leute Regie geführt und andere das Drehbuch geschrieben. Beispielsweise Anders Thomas Jensen. Solches Ausnahmetalent ist aber auch in Dänemark die große Ausnahme. Leider.



Miriam Gebhardt: Die Weiße Rose (Sachbuch)




Ein sehr gutes Buch, das sich präzise dem stellt, was der Untertitel vorgibt: "Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden".Anfangs war ich etwas irritiert, warum die Autorin Miriam Gebhardt so oft - und meist missbilligend - auf andere Biografien und deren Deutungen der "Weißen Rose" eingeht. Doch im Lauf dieser ebenso informativen wie berührenden Lektüre wird ihr Motiv immer deutlicher: Es ist dabei wohl eine ordentliche Portion Ärger im Spiel.Ärger darüber, dass das kurze Leben dieser jungen Leute nach deren Tod von allen möglichen Personen dazu missbraucht wurde, um ihre eigenen Botschaften zu verbreiten. Meist passierte das mit der Absicht, die Geschwister Hans und Sophie Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber zu christlichen Märtyrern hoch zu stilisieren. (In diese Richtung geht auch die 2-Sterne-Rezension des Theologen Jakob Knab, der selbst über die Weiße Rose geschrieben hat.)Andere Interpreten sahen die jungen Leute, die aus Verzweiflung über das barbarische Nazi-Regime und die allgemeine Verrohung ihrer Mitbürger in den Widerstand gegangen waren, als Ausführende der Ideen älterer Vordenker, wie etwa dem mit angeklagten Professor Kurt Huber. Gebhardt macht deutlich, dass es eher umgekehrt war. Dass die Energie der jungen Leute den verbitterten Alten mitgerissen hat.Und wieder andere machten die Widerstandsgruppe zu leichtsinnigen Hasardeuren, die Drogen nahmen und das Leben ihrer Freunde aufs Spiel setzten. Tatsächlich war es extrem fahrlässig von Hans Scholl, dass er bei seiner Festnahme einen Text von Christoph Probst in der Hosentasche hatte - und damit den dreifachen Familienvater verriet.
Die Journalistin und Historikerin Gebhardt setzt den subjektiv gefärbten Interpretationen eine ebenso abwägende wie kluge Spurensuche entgegen, die immer auch die äußeren Umstände mitdenkt, aus denen die Quellen stammen, die Briefe oder die Texte der Flugblätter, die der Gruppe schließlich zum Verhängnis wurden. Es macht eben schon einen Unterschied, ob ein Brief in der Todeszelle geschrieben wurde, mit dem Wissen, dass er durch die Zensur der Gestapo muss - oder ob es sich um einen Brief handelte, den etwa Sophie Scholl - im Überschwang der Lektüre eines verbotenen Buches - an ihren Freund schrieb.
Der Autorin ist ein hervorragendes Buch gelungen, das auch das anfangs gestellte Motiv sehr gut erklärt. Ich will hier nicht spoilern - und stattdessen allen die Lektüre empfehlen. Es lohnt sich sehr.
   

Paolo Bacigalupi: Water (Roman)

Angel Velasquez arbeitet als "Waterknife" im Auftrag der Wasser-Oligarchin Catherine Case. Seine Aufgabe ist es, alles aus dem Weg zu räumen, was seiner Chefin im Weg steht, ihr Wasser-Imperium auszubauen. Angel übernimmt Aufträge aller Art: beseitigt unliebsame Gegner, überbringt tödliche Botschaften (z.B. dass nun bald das Wasser abgedreht wird) und hilft dabei Grenzmilizen anzuheuern, die auf Flüchtlinge aus anderen Bundesstaaten schießen.Im Süden der USA herrscht Krieg. Krieg unter den einst verbündeten Bundesstaaten. Kalifornien kennt keine Gnade, wenn irgend ein Nachbar wertvolle Wasser-Ressourcen besitzt. Texas ist vollständig unter die Räder gekommen, die Städte sind ausgedörrt, die texanische Bevölkerung flüchtet in Massen. Die Stadt Phönix ist als nächstes Opfer der Wassermafia auserkoren und hier spielt der Großteil der Handlung. Die Menschen sind den ständig tobenden Sandstürmen ausgesetzt. Rund um die letzten öffentlichen Brunnen unter Aufsicht von Rotem Kreuz und "Chinesischer Freundschaft" versammeln sich die Verzweifelten zu einem Endzeit-Szenario.Von der alten USA ist nicht mehr viel über, außer Restbeständen an Militärs und Verwaltung. Neben dem Dollar ist auch der chinesische Yuan im Umlauf, der als wesentlich stabiler gilt. Doch noch immer wird ein juridischer Grundsatz hoch gehalten, in dem es darum geht, wer die wirklich gültigen, die "alten Wasserrechte" hat. Alle versuchen sich damit auf zu munitionieren, um die letzen Reservoirs und Flußläufe unter ihre Kontrolle zu bekommen. Und auch Case spielt dieses Spiel mit, weil sie nicht riskieren kann, plötzlich ausgebootet zu werden und ins Visier der Bundesbehörde zu kommen. Wichtigstes Wasser-Reservoir der südwestlichen USA ist der Colorado River, der schon heute derart massiv ausgebeutet wird, dass im Mündungsgebiet in Mexico kein Wasser mehr an kommt. In Bacigalupis Thriller ist der Kampf zwischen den Anrainern-Staaten hemmungslos im Gang. Als Gerüchte aufkommen, dass uralte Indianerrechte an der Nutzung des Colorado gefunden wurden, welche die Existenz der Stadt Phoenix sichern würden, geht die große Jagd los.
Case hat ihren Sitz in Las Vegas, wo sie durch Kapseln abgeschirmte High-Tech Wohnbezirke errichtet, deren Mieter vor den tödlichen Sandstürmen geschützt sind. Nur in diesen "Arkologien" ist das Überleben der Menschen mit Wasser, Nahrung und sauberer Luft gesichert, außerhalb herrschen Anarchie und der Terror paramilitärisch organisierter Gangster wie dem gefürchteten "Vet", der sich einen Spaß daraus macht, seine Opfer einer Meute von Hyänen auszuliefern.Angel der auf Grund seiner Aktivitäten schon mal damit kokettiert, dass er der Mensch gewordene Teufel ist, stammt aus einer mexikanischen Familie, die von Gangstern ausgerottet wurde. Er selbst blickte als Zehnjähriger in die Mündung eines Pistolenlaufs und überlebte durch eine pure Laune des Killers. Er wird dieses Gefühl der Angst und des Ausgeliefert-Seins nie wieder los.
Weitere Hauptfiguren sind der junge texanische Flüchtling Maria und ihre Freundin Sarah, die versuchen mit allen Mitteln durchzukommen. Man müsse sich nur an die "reichen Fünfer" heranmachen, sagt Sarah. Die zahlen gut und nur mit ihrer Hilfe kann man auch mal duschen oder seine Unterwäsche waschen. Maria lässt sich zögernd in diese Welt ein, sie ist ein Überlebenswunder, das in jede Richtung nach Möglichkeiten sucht - und dabei alle Abgründe kennen lernt.
Wichtigste Figur neben Angel ist die Journalistin Lucy Monroe, die einst den Pulitzerpreis gewann und nun mit ihren Berichten über die Hintergründe der Wasserkriege mehr recht als schlecht überlebt. Der Großteil des Journalismus zählt längst zur "Metzgerpresse", wo mit Hilfe von Gräuelfotos und Stimmungsmache die Jagd nach "Klicks" geführt wird. Lucy ist von Angel ebenso fasziniert wie abgestoßen und es macht einen wirklichen Reiz dieses Thrillers aus, den gut gezeichneten Charakteren mit ihren vollständig unterschiedlichen Zielen und Voraussetzungen durchs Chaos der Wasser-Endzeit zu folgen.
Dem US-Amerikaner Paolo Bacigalupi ist mit "Water" ein herausragender Thriller abseits von Plattitüden und eindimensionalen Genre-Typen gelungen. Er hat die Folgen des Klimawandels seit vielen Jahren gründlich recherchiert und die vielseitigen Kenntnisse merkt man dem Buch auch an. Dass es dabei jedoch stets ein Thriller bleibt, der mit atemberaubenden Aktionen und überraschenden Wendungen die Handlung vorantreibt, das ist - neben den eigenwillig und facettenreich gezeichneten Hauptfiguren - die große Kunst von Bacigalupi.


Maaria Päivinen: Bin hungrig, bin durstig (Roman)



"Die Arme des Jungen waren appetitlich muskulös, der Körper mager, aber trotz seiner Jugend verlockend kraftvoll. Emilie leckte sich die Lippen. Sie hatte Durst. Hunger höhlte ihren Bauch aus. Hunger das ganze Leben."So beschreibt die junge finnische Schriftstellerin Maaria Päivinen ihre Hauptfigur in diesem außergewöhnlichen Roman. Wenn man dann noch weiß, dass Emilie Lehrerin ist und ihr derart ausgespähter kleiner Schatz einer ihrer Schüler, so erfährt man rasch, dass Moral hier keine gültige Kategorie darstellt. Die Mutter des begehrten Schülers ist die Rektorin der Schule. Ihr schreibt Emilie: "Dein Sohn ist äußerst begehrenswert geformt, wie ein Algorithmus, ich könnte das arme Kind auffressen. Vielleicht tue ich es auch." - Und das ist keine leere Drohung.Emilie gibt sich mit derartiger Gier ihren sexuellen Neigungen hin, dass der alte Bukowski dagegen wie ein Ministrant wirkt.Ihrem Verehrer Blumen, der die Flucht ergriffen hat, jagt sie durch dutzende Länder nach und brüllt Dinge wie das hier in die Luft (oder in den Lüftungsschacht): "Komm. Verlass diejenige, die du heute streichelst. Ich passe viel besser in deine Arme. Ich gieße dir heißen Kaffee auf die Knie, wenn du nicht." - Ständig schreibt Päivinen solche Sätze. Sie wirken gemeißelt als wären sie aus Gedichten gestohlen.Und lustig ist das Buch gerade durch die Unbedingtheit, mit der Emilie durch die Seiten tobt. Der Streit mit dem Wohnungs-Nachbarn, diesem verlausten Proll, artet zu einem derartigen Krieg aus, dass ich vor lachen zu Boden gegangen bin.Eines der ungewöhnlichsten und härtesten und poetischsten Bücher die ich je gelesen habe.
Bin hungrig, bin durstig


Stephan Reich: Wenns brennt (Roman)



Finn und Erik, dem Icherzähler dieses Romans, sind beide 16 Jahre alt und kennen sich "seit ewig". Finn wohnt am Hügel der Reichen in der tristen Kleinstadt - mit seiner Mutter. Der Vater hat sie für eine Jüngere verlassen und ist mit ihr ab nach Hamburg.Eriks Vater ist bei der Post. Nach den Ferien soll Erik ihm nachfolgen und eine Lehre beginnen. Fürs Abitur reicht Eriks Ehrgeiz nicht. Was wirklich zählt, ist nämlich Saufen & Kiffen & Vögeln.Sein Kumpel Finn ist in allem noch etwas radikaler. Als Finn seine Mutter in flagranti mit dem verhassten Kunstlehrer erwischt, ist das der Start in einen Amoklauf, der Erik mit reißt und die letzten Ferien vor dem Erwachsenwerden möglicherweise zu ihren letzten Ferien überhaupt macht.
Der Roman ist radikal aus der Sicht eines 16-jährigen erzählt. Mit eben dieser Sprache, diesem weltgierigen Fokus auf dem schnellstmöglichen nächsten Witz, der nächstbesten Gelegenheit, "was zu machen": eine Party, Bier, Wodka oder Joints zu organisieren. Oder runter zum Schotter, dem Treffpunkt der Clique. Eriks komplizierte Beziehung zur rothaarigen Nina, seiner ersten richtigen Freundin, mit der Freude und dem Stress beim Sex. Die Dinge, die man sagt und denkt dabei. Und wie das alles richtig schief gehen und vollkommen eskalieren kann.
Stephan Reich hat hier einen Roman vorgelegt, der nur so brummt vor richtigen Worten und Gefühlen, die sich so echt anfühlen, dass man gar nicht anders kann, als selber nochmal sechzehn zu sein.Mit allen Chancen dieser Welt - aber auch der gewaltigen Hürde, diese verflixt schwierigen Jahre erstmal zu überleben.Ein großartiges Buch!



Men and Chicken (Film)



Vorab ein Geständnis: Anders Thomas Jensen ist mein absoluter Lieblings-Regisseur und Drehbuchautor. Für mich macht er einen Gutteil des "dänischen Filmwunders" aus, deutlich vor Lars van Trier. Für "In China essen sie Hunde" oder "Old Man in New Cars" schrieb er ebenso das Buch wie für Susanne Biers Meisterwerke "Nach der Hochzeit", "Open Hearts" oder "Brothers". "In einer besseren Welt" wurde als bester fremdsprachiger Film mit dem Oskar ausgezeichnet. Und dann erst seine selbst inszenierten Filme, allen voran die genial durchgeknallten Meisterwerke "Flickering Lights", "Dänische Delikatessen" und "Adams Äpfel".Men & Chicken schließt hier nahtlos an. Ein Film voll tiefschwarzem Humor, übervoll mit absonderlichen Charakteren in einer fantastischen Parallelwelt, wie sie nur Anders Thomas Jensen erschaffen kann.Wer noch nie einen Film des genialen Dänen gesehen hat, sollte aber besser nicht mit diesem Film beginnen. Empfindsame Gemüter mit Vorliebe für Mainstream sollten überhaupt einen größeren Bogen um ihn machen. Alle anderen: absolute Empfehlung!



Slow West (Film)



Der Film ist ein wirkliches optisches und akustisches Vergnügen. Eine viel versprechende Talentprobe des jungen schottischen Regisseurs und Musikers John M. Maclean, der auch gleich das Drehbuch geschrieben hat. Jeder Nebendarsteller wird in kurzen Szenen treffend charakterisiert. In der Hauptrolle begleiten wir Jay (Kodi Smit-McPhee), einen 16-jährigen Adeligen, der von Schottland ausgezogen ist, um seine große Liebe Rose (Caren Pistorius) wieder zu finden. Rose ist mit ihrem Vater in die USA geflohen, weil dieser bei einem Raufhandel den Onkel Jays getötet hat. Und für einen Mord an Adeligen reicht der Arm des Gesetzes sogar bis in den Wilden Westen. Wenn auch nur als Kopfgeld, das jede Menge Halunken anlockt. Die Devise lautet "Dead or Dead", denn jemand lebend abzuliefern ist mühsam und verursacht nichts als Ärger.Jay hat keine Ahnung, dass auf sein Mädchen ein hohes Kopfgeld ausgesetzt ist. Er zitiert englische Dichter und geht als naiver romantischer Held in jede Falle, die sich ihm bietet.Dies ist kein typischer Western, sondern großes Schauspiel mit Charakterdarstellern, verblüffenden Wendungen und brutalen Einlagen, die so lakonisch daher kommen, dass sie beinahe komisch wirken. Wie etwa die Szene als Jay hoch schreckt und dabei einen Pfeil durch die Hand geschossen bekommt, der ansonsten wohl schwer ins Auge gegangen wäre. Für Jays Begleiter Silas (Michael Fassbender) ist das kein Grund sich aufzuregen, ein harmloser Kratzer. Und tatsächlich wird alles nur noch schlimmer bis zum großen Schlussakkord, der so langsam und malerisch und grandios daher kommt, wie der ganze großartige Film.



Und dann der Regen (Film)

Dass der Laien-Darsteller Daniel nichts als Ärger machen wird, das ist dem Produzenten Costa sofort klar. Verlangt dieser Daniel doch, dass die mehr als hundert Menschen, die sich für die Statistenrolle beworben haben, alle angehört werden. Gegen Costas dringenden Rat wählt der idealistische junge Regisseur Sebastian jedoch genau diesen Daniel aus, in seinem Film eine wichtige Rolle als rebellischer Ureinwohner zu übernehmen.Sebastians Film, für den er fünf Jahre lang gekämpft hat und schließlich mit Mühe das große Budget aufbringen konnte: Ein Film, der die ungeschminkte Wahrheit zeigen soll: Wie Christoph Columbus und seine Clique die Ureinwohner gnadenlos gegeneinander ausgespielt und brutal für ihre Gier nach Gold eingesetzt haben.Parallel zu den schwierigen Dreharbeiten, den Reibereien, Eitelkeiten und privaten Tragödien unter den Schauspielern, spielt die Realität der bolivianischen Politik bald die Hauptrolle am Set. Der streitbare Daniel ist nämlich auch Anführer der Bürgerproteste gegen die Privatisierung des bolivianischen Trinkwassers. Proteste, die sich bald zu Straßenschlachten auswachsen und "normale" Dreharbeiten unmöglich machen.Der Film orientiert sich an realen Ereignissen, die im Jahr 2000 in der Stadt Chochabamba zum "Guerra del Agua" (Wasserkrieg) führten. Damals hat die Regierung - erzwungen durch Auflagen des Internationalen Währungsfonds - die regionale Wasserversorgung privatisiert. Dies führt binnen kurzem zu einer Verdreifachung der Wasserpreise. Sieben Menschen starben, hunderte wurden verletzt. - Und so sehr sich der Film Mühe gibt, die Handlung dramatisch voran zu treiben, so wirkt doch leider vieles sehr konstruiert. Es ist ein Film mit großem Anspruch und einigen guten Momenten, der die Zuseher dennoch seltsam unbeteiligt zurück lässt. Zu wenig glaubhaft wirkt die Involvierung der Filmcrew in den Wasserkrieg.



Wild Tales (Film)

Zunächst ärgert sich der Fahrer des schnittigen Geschäftsautos, als er von einer Rostkarre am Überholen gehindert wird. War es Absicht - oder nicht? - Der Geschäftsmann schreit beim Überholen einen Fluch rüber und zeigt dem Penner den Mittelfinger. Weiter gehts, die einsame Landstraße entlang. - Bis dann der Reifen platzt und der Geschäftsmann ratlos die Pannenhilfe ruft, weil er keine Ahnung hat, wie ein Reifen gewechselt wird. Dabei geht wertvolle Lebenszeit verloren: Genau genommen 100 Prozent. Denn der Penner kommt näher und revanchiert sich in einer derart drastischen Art, dass eine Provokation die nächste auslöst. Bis die Polizei am Ende zwei ineinander verkeilte Skelette findet, die aussehen als würden sie sich amüsieren.Was die Zuseher dieses Filmes mitbringen müssen, ist ein Hang zu drastischem Humor. Zart besaitete Gemüter sollten sich zur Warnung unbedingt vorher die Ein-Stern Rezensionen durchlesen. Wer jedoch sogar diese entsetzten Kritiken abgründig witzig findet, für den ist der Film wie geschaffen. Ein Kunstwerk, das grandioses Schauspiel verbindet mit dem goldrichtigen Timing für Pointen abseits moralischer Hemmschwellen.



Going Postal (Film)

Bereits mehrfach wurde ich enttäuscht von den Verfilmungen der großartigen Romane von Terry Pratchett. Weil ich gerade dieses Buch so überaus schätze, wollte ich wissen, ob vielleicht hier auch der Film besser ist. Es gelang weder mir noch meinen Kindern, den Film fertig anzusehen. Leider war wieder ein grottenschlechter Regisseur am Werk. Man sollte ihn mit Berufsverbot belegen.



Die Beschissenheit der Dinge (Film)

Der alte Strobbe, schlimmster Wüstling einer flämischen Kleinstadt, hat sich längst tot gesoffen - und seine vier Söhne sind am besten Weg, ihm nach zu folgen. Mit geballter Kraft: Sie haben sich aus verschiedenen Gründen wieder im Elternhaus eingefunden, wo sie von einer resignierten Mutter bekocht werden. Falls sie überhaupt etwas essen.Einer der vier, der Briefträger Celle, auf dessen Tour zufällig die meisten Kneipen stehen, hat einen Sohn: Den 13-jährigen Gunther. Aus seiner Sicht wird das Geschehen kommentiert. Für Gunther ist die Großmutter der einzige Halt in diesem Chaos. Sie gibt ihm eine Ahnung, dass auch ein anderes Leben möglich wäre - als jenes aus Rausch, Egozentrik und primitivster Triebbefriedigung, wie es sein Vater und dessen Brüder praktizieren.Einmal kommt die Tante zu Besuch - blau im Gesicht und schwer verdroschen von ihrem Typ - zusammen mit ihrer etwa 12-jährigen Tochter. Während die Tante versucht, sich auszukurieren, beobachtet die Cousine das wüste Treiben und steigt - zu Gunther Überraschung - schließlich voll bei Saufspielen und ordinären Liedern ein. Daraufhin lässt sich die Tante wieder von ihrem Schlägertypen abholen. Sie sei keine Strobbe mehr, sagt sie. Und verdroschen zu werden erscheint ihr noch immer erträglicher, als diese Familie. Ihre Brüder lässt die Prügelszene kalt: Wenn sie sich distanziert, so gehört sie nicht dazu und verdient auch keine Hilfe: Tschüss.In jeder Szene offenbart sich eine latent vorhandene Alkoholgereiztheit, die sofort zum Ausbruch kommt, wenn der mühsam aufrecht erhaltene Reststolz beleidigt wird. Und auch Gunther bekommt seine Ration ab. Als sein bester Freund erzählt, dass sein Vater ihm den Umgang mit diesem Strobbe-Gesindel verbietet, schlägt er ihn nieder. Als Gunther daraufhin der Rausschmiss aus der Schule droht, erzählt er seinem Vater, was über ihn gesagt wird und warum er seinen Freund geprügelt hat. Daraufhin dreht Celle durch und bringt Gunther beinahe um.Gunther Mutter ist auch keine Hilfe. Er spioniert ihr nach und merkt schließlich, dass Vaters Sprüche von der "gottverdammten Hure, die Deine Mutter ist", in diesem einen Fall ausnahmsweise der Wahrheit entsprechen. Gunther will daraufhin nur noch weg: Ins Internat - raus aus dem Irrenhaus.Gunther wird später zum erfolgreichen Schriftsteller. Sein erster Roman, in dem er schonungslos seine Herkunft und seine Gefühle beschreibt, wurde in Belgien zum Bestseller und zur Vorlage für diesen Film. HIer sind die einzelnen Typen der Familie Strobbe hervorragend besetzt, die Schauspieler zeigen sehr gut die Bandbreite von Gewalt, Verzweiflung und Brachialhumor - der manchmal sogar lustig ist."Die Beschissenheit der Dinge" ist insgesamt ein hervorragender Film - für ein Publikum, das authentische Sozialdramen mag, denen jegliches Hollywood-Pathos fehlt. Es ist zugleich ein trauriger und harter Film, der zeigt, welche Bürde so eine Sippe darstellt und wie schwer es ist, sich aus dem Gefängnis der Herkunft zu befreien.



Mud - Kein Ausweg (Film)

Ellis und Neckbone, zwei Jungs mitten in der Pubertät. Schwierige Familienverhältnisse - bei Ellis wollen sich die Eltern trennen, weil die Mutter genug hat vom ärmlichen Leben auf dem Hausboot. Bei Neckbone ist überhaupt nur ein Onkel vorhanden. Sie leben im Mississippi Delta, fahren mit dem Moped rum oder mit dem Motorboot. Auf einer Insel finden sie ein Schiff, das nach einer Flut in den Bäumen hängen geblieben ist. Doch als sie es als Lager und Versteck benutzen wollen, merken sie: da wohnt schon jemand…
Der Fremde stellt sich als Mud vor. Braungebrannt im strahlend weißen Hemd, hinten in der Jeans steckt ein Revolver. Mud freundet sich mit den Jungs an. Als die Polizei nach ihm fahndet, gesteht er freimütig einen Mord. Einen Mord aus Liebe. Ellis und Neckbone werden seine Komplizen. Doch können sie Mud wirklich trauen? Stimmt die Geschichte? Und was treibt die hübsche Blondine in die Gegend, die in einem Motel rumhängt wie ein unschlüssiger Lockvogel.
Der Film hat eine starke Story, großartige jugendliche Schauspieler. Wunderbar gefilmt. Von dieser Seite - ihren Lebensumständen, den Dialogen, ersten Erfahrungen mit Mädchen und dem generellen Misstrauen gegen die Erwachsenenwelt - stimmt hier alles. Eher blass bleibt hingegen die Beziehung zwischen Mud und seiner großen Liebe. Auch das Auftauchen eines Lynchmobs bleibt papieren und bringt statt Spannung doch nur Klischee ins Spiel. Doch wie sich rund um das Dreigespann Ellis, Neckbone und Mud eine dramatische Grundstimmung entspinnt, welche bis zum Schluss ihre Rätsel aufrecht hält, das macht den Film doch sehenswert und überdurchschnittlich gut.



Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit (Sachbuch)

Es ist kein Wunder, dass Yuval Noah Harari, Professor für Geschichte an der Universität Jerusalem, in Israel - und auch auf Youtube - den Status eines Superstars hat. Noch nie habe ich ein so leicht und kurzweilig geschriebenes Buch über die anspruchsvollsten Themen gelesen, die man sich denken kann.Mit einer Schärfe, die oft an Brutalität grenzt, skizziert er, wie die Menschheit im Schlingerkurs der Zeiten zu dem wurde, was wir eben heute sind. Wie wir die Neandertaler ausgerottet haben, zu unserem Unglück sesshaft wurden und zum Trost Religionen und Ideologien erfunden haben, was bei Harari übrigens auf das Gleiche hinaus läuft.Gesegnet mit einer universellen Perspektive analysiert er schwerelos die komplexesten Themen und hat eine Lust an provokanten Thesen, dass es eine Freude ist. (Nicht wenige Leser werden das Buch wohl vor Wut an die Wand werfen.)Am Ende summiert sich ein nie nachlassender Fluss an klugen - ja immer mal regelrecht genialen - Beobachtungen und Schlüssen zum Titel des Buches, der genau das liefert, was er verspricht: Eine kurze Geschichte der Menschheit, wie sie besser, tabuloser und spannender nicht vermittelt werden kann. Grossartig!



Steve Earle: I'll Never Get Out Of This World Alive (Roman)

Das Viertel um den South Presa Strip im Süden von San Antonio/Texas ist das vergammelte abgefuckte Revier der Huren, Stricher, Diebe und Säufer. Und mitten drin vegetiert Doc, ein heroinsüchtiger ehemaliger Arzt, der sich mit Abtreibungen, sowie der Versorgung von Schuss- und Stichwunden das Geld für seine täglichen Rationen verdient. Immerhin muss er nicht auf den Strich gehen oder stehlen und rauben, so wie die sonstigen Kunden des Dealers Manny, der jeden Tag verlässlich hinten auf dem Parkplatz beim Schnapsladen steht und seine Ballone vertickt.Wenn Doc ordentlich zugedröhnt ist, erscheint ihm der Geist der früh verstorbenen Musiklegende Hank Williams, mit dem Doc früher zu Lebzeiten als dessen Leibarzt und Saufkumpan von Konzert zu Konzert gezogen ist. Nun, wo er tot ist, umlauert Hank seinen Freund missmutig und eifersüchtig und man hat den Eindruck, dass er es nicht abwarten kann, bis Doc endlich seinen rußgeschwärzten Junkie-Löffel abgibt.
Bei Steve Earle, dem großartigen Countrymusiker, der hier seinen ersten Roman vorlegt, wird dieses Ghetto rasch zum Idyll, bevölkert von Gestalten, die fast alle irgendwo einen guten Kern haben. Auch wenn sie sich mal gegenseitig mit dem Messer an die Gurgel gehen oder den Schnapsladen hochnehmen. Das ist der Suff, you know. Am nächsten Tag isses wieder gut. Und wenn nicht alles gut geht, weil der alte Besitzer des Schnapsladens den Räubern ziemlich gut hinterher geschossen hat, dann ist immer noch Doc da, der im Hinterzimmer ordiniert und tut was er eben kann.
Ihn treibt keine besondere Menschenliebe, aber er hat sich an sein Milieu und dessen Bewohner gewöhnt. Da ist Marge, seine lesbische Vermieterin in der Pension Yellow Rose, die keine Schwarzen ins Haus lässt und ständig auf ihre Freundin eifersüchtig ist. Big Manny sein mexikanischer Dealer, mit dem er nach dem Dienst in Teresas Kneipe Domino spielt. Der korrupte Cop, die süchtigen Nutten und eben Hank der Geist. Alle diese Leute haben irgendwann ein paar falsche Entscheidungen getroffen. Entscheidungen, die sie längst bereuen, aber es hilft nichts. Es führt kein Weg zurück. Wenn nicht ein Wunder geschieht.In Steve Earles Buch hört das Wunder auf den Namen Graciela. Sie ist eine junge Mexikanerin, die bei Doc nach einer Abtreibung fast verblutet und dann "hängen bleibt". Und mit dieser zierlichen jungen Frau, die von ihrem Großvater die Gabe des Heilens geerbt hat, ändert sich alles.
Sterblichkeit, sagt Earle im Interview, sei für ihn das große Thema dieses Romans gewesen, auch dadurch beeinflusst, dass während der Schreibarbeiten sein Vater verstorben ist. Das Buch ist keine große außergewöhnliche Literatur, aber man lässt sich gerne auf diesen Erzählton ein. Und obwohl im Fortgang der Story auch noch richtige Bösewichter auftauchen und alles auf einen fulminanten Showdown zusteuert, ist der bestimmende Sound des Romans ein versöhnlicher ruhiger Bass.



Rawi Hage: Kakerlake (Roman)

Ein Buch wie dieses habe ich noch nie gelesen. Gestern spät abend habe ich es weg gelegt und ich bin noch immer platt: aufgewühlt, begeistert, verstört.Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein nach Kanada emigrierter Araber. Er vegetiert mehr als er lebt, hat ständig Geldprobleme, leidet an Hunger, an Alpträumen und Depressionen. Eben hat er einen missglückten Selbstmord-Versuch hinter sich und wurde zu einer Therapie verpflichtet. Seine Besuche bei der Therapeutin Genevieve bilden den roten Faden der Erzählung. Der zweite ist seine immer drastischer werdende Identifikation mit dem Wesen und Charakter einer Kakerlake. Er provoziert seine Umgebung ständig, stielt ohne Hemmungen, ist dabei aber ein charmanter Frauenheld und ein im Grunde liebenswerter Mensch.Rawi Hage, der Autor dieser fesselnden Charakterstudie, ist in Beirut aufgewachsen, bevor er, so wie sein Romanheld, nach Kanada emigrierte. Er hat den libanesischen Bürgerkrieg am eigenen Leib erlebt und schildert die psychischen Traumata, welche eine derartige Vergangenheit hinterlassen kann, so echt und intim, dass der Schrecken plastisch wird.Trotz alledem ist dieser Roman in keiner Phase deprimierend, hat sogar wirklich lustige Passagen. Die Hauptfigur ist derart abenteuerlich durchgeknallt und in ihrem Zorn und ihren ständig ausschweifenden wüsten Fantasien so interessant und authentisch, dass es eine Art schwarzes Vergnügen darstellt, die kanadische Gegenwart durch ihre Augen zu betrachten.Kakerlake ist das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe.



Gil Adamson: In weiter Ferne die Hunde (Roman)

Dieser erste Roman der kanadischen Lyrikerin Gil Adamson ist ein außergewöhnlich gutes Buch, das ich kaum noch aus der Hand legen konnte.Hauptfigur ist die 19-jährige Witwe Mary Boulton, die von ihren beiden Schwagern verfolgt wird, weil sie deren Bruder ' ihren Mann ' umgebracht hat. Sie war bei der Tat halb wahnsinnig vor Trauer und Zorn - und auch im Verlauf ihrer Flucht schwappt sie mehrfach auf die Seite des Irrsinns - kommt ums Haar mit dem Leben und dem Verstand davon - um sich dann mit umso größerer Intensität in ihre neu gewonnene Freiheit zu stürzen. Freiheit, die auch die Erkundung liebevoller und leidenschaftlicher Sexualität umfasst - welche sie in ihrer kurzen, brutalen Ehe niemals kennen gelernt hat.Das Buch ist - neben der eigenartigen Persönlichkeit Mary Boulton - von vielen weiteren wunderbaren Charakteren bevölkert: etwa dem Zwerg McEchern, der geschäftstüchtig und durchtrieben in einem Bergbaunest einen Laden betreibt. Den "Katzenfänger" Giovanni, der nur italienisch spricht - als Schwarzbrenner aber hoch verehrt wird. Den sanften Reverend Bonnie, der seine Gottesdienste als Schaukämpfe inszeniert und ohne jegliches Zimmermanns-Talent seine windschiefe Kirche baut. Oder den durchtriebenen alten Fährtensucher, den die verbitterten Schwager angeheuert haben, und der ihnen auf ihrer Verfolgungsjagd widerwillig und höchst eigensinnig zu Diensten ist.Das Buch ist eine großartige Melange herausragender Personen- und Schicksals-Beschreibung in wilder kanadischer Landschaft, das zur damaligen Zeit noch Indianerland ist.Ich sehe hier, dass ich mit meiner Rezension recht spät dran bin :( und hoffe sehr, dass dieser großartige Roman schon bald als Taschenbuch erscheint.



Nathanael West: Eine glatte Million (Roman)

Wer unvorbereitet zu diesem Buch greift und den Fehler begeht, sich auf den mitreißenden Erzählfluss dieser Geschichte emotional einzulassen, wird einen brutalen Tiefschlag nach dem anderen erleben. Der Niedergang des Helden Lemuel Pitkin wird so staubtrocken und beiläufig erzählt, dass man aus dem Staunen nicht heraus kommt. Das Buch stammt vom weithin unbekannten US-Autor und Hollywood-Lohnschreiber Nathanael West und ist im Jahr 1934, noch sehr unter dem Einfluss der großen Weltwirtschaftskrise erschienen. Nun wurde es in einer frisch bearbeiteten Übersetzung von Dieter E. Zimmer, der auch ein langes und aufschlussreiches Nachwort schrieb, neu aufgelegt.Die tragisch komische Farce beginnt damit, dass ein Rechtsanwalt die Nachricht überbringt, dass die Hypothek auf das Haus, in dem der 17-jährige Lemuel Pitkin mit seiner Mutter wohnt, binnen zwei Monaten fällig gestellt wird. Zeit genug, um in einem so tollen Land wie den USA sein Glück zu machen, befindet Mister Whipple, der im Ort eine Bank betreibt. Lem verpfändet also die einzige Kuh - bekommt dafür von Mister Whipple lachhafte 28 Dollar und zieht voll Optimismus und Tatkraft in Richtung New York.Am Weg zum Bahnhof rettet er die gleichaltrige Betty, in die er heimlich verschossen ist, vor einem tollwütigen Hund und einem brutalen Rüpel. Mit dem Ergebnis, dass er - als er schon gewonnen hat - überlistet und brutal bewusstlos geschlagen wird. Betty wird vergewaltigt und später von Mädchenhändlern in ein Bordell verschleppt. Lem ahnt davon nichts, zieht weiter nach New York, wird aber bereits im Zug so gründlich betrogen, dass er seine Barschaft verliert und obendrein - falsch beschuldigt - im Gefängnis landet. Dort zieht man ihm zur Begrüßung - und zur Vermeidung von Infektionen - gleich prophylaktisch alle Zähne. Wir halten mittlerweile gerade mal auf Seite 25 des Romans und die Zähne sollten bei weitem nicht die letzten Körperteile sein, die Lem im weiteren Fortgang der Geschichte einbüßt.West schrieb diesen Roman als eine persönliche Abrechnung mit dem Bestsellerautor Horatio Alger, der in seiner Jugendzeit in den USA millionenfach verbreitet war und in dessen Schmonzetten trotz aller Unbill des Lebens immer das Gute die Oberhand behielt. West drehte diese verlogene Botschaft radikal und konsequent ins Gegenteil. Er belässt es dabei aber nicht bei einer absurden Tragikomödie, sondern schafft beiläufig auch noch eine recht schlüssige Parabel auf die Entstehung und die Motive des Faschismus, der auf der anderen Seite des Atlantik gerade zu fataler Form aufläuft. Faschismus wird hier als eine Bewegung dumpfer ideenloser Verlierer charakterisiert, die tatsächlich erlittenes Unrecht mit brachialer Wut auf alles Fremdartige beantworten. Und wer könnte sich für so eine Bewegung besser als Märtyrer eignen, als ein Naivling wie Lem, der auf jeden erbaulichen Spruch und jede noch so hohltönende Rhetorik hereinfällt.Ich fand das Buch kurzweilig und interessant. Auch wenn die Eindimensionalität der Charaktere manchmal recht krass wirkt, so befördert sie doch den komischen Reiz dieser wirklich außerordentlichen Erzählung, wo ein Schicksalsschlag auf den nächsten folgt.



Kurt Andersen: Neuland (Roman)

Kurt Andersen ist mit "Neuland" ein prächtiges Zeitmosaik gelungen, das uns über faszinierende Charaktere das Revolutionsjahr 1848 in Europa und den USA nahe bringt. Das Buch ist so spannend geschrieben, dass es trotz seiner 900 Seiten niemals eine Phase gibt, wo man es liegen lassen möchte. Im Gegenteil: die Schicksale der vier Hauptpersonen werden gekonnt verknüpft - es ist ein Vergnügen ihnen auf ihren Wegen zu folgen, auch - oder gerade wenn sich haarsträubende Dinge abspielen.Andersen schafft es beeindruckend, den Zeitgeist dieser Jahre so real zu beschreiben als stecke man selbst mitten drin. Charles Darwin, Edgar Allen Poe und zahlreiche andere reale Personen treten wie selbstverständlich am Rande der Handlung auf. Darwin als furzender Gast bei einem Dinner von Benjamin Knowles geschäftstüchtigem Vater, der Benjamin den letzte Impetus gibt, seine Pläne nach Amerika auszuwandern, auch wirklich in die Tat umzusetzen. Poe als Vortragender in New York, der den Journalisten und Fotografen Timothy Skaggs mit seiner schrägen Weltsicht beeindruckt.Doch es braucht diesen realen Aufputz gar nicht, um die Story in Gang zu halten. Dazu tragen neben Knowles und Skaggs die Geschwister Duff und Lucky Polling bei: Er ein Veteran des Mexico-Krieges, der von seinen siegreichen Truppen desertierte und zu den Gegnern überlief. Seine Schwester Polly eine Gelegenheits-Prostituierte, die von einer Karriere als Schauspielerin träumt. Ben verliebt sich bei seiner Ankunft in America in Polly und bald zieht es das ganze Quartett in den Westen - verfolgt von einem wahnsinnigen Korsen, der sich für den Sohn Napoleons hält und Ben für den Tod seines Bruders während der Revolutionstage in Paris verantwortlich macht.Dieser Roman ist ein Meisterwerk für alle Zwecke: Er befriedigt die intellektuelle Neugier ebenso wie das Bedürfnis nach Spannung und romantischer Liebe. Und das - kunstvoll ins Deutsche übersetzt von Birgit Moosmüller - auf höchstem erzählerischen Niveau.



Günther Thömmes: Der Fluch des Bierzauberers (Roman)

Der dritte Teil von Günther Thömmes Bierzauberer-Trilogie beginnt in den Anfangsjahren des 30-jährigen Krieges in der Stadt Magdeburg. Hauptfigur ist der junge Braumeister Cord Heinrich Knoll, der trotz der immer schlechter werdenden Versorgungslage seinen Ehrgeiz darin legt, das beste Bier der Stadt zu brauen. Im Mai 1631 rücken die kaiserlichen Truppen auf die Hochburg des Protestantismus vor und nachdem die Hilfe der schwedischen Verbündeten aus bleibt, ereignen sich Tage des Grauens: die siegreichen Katholischen fallen über die Stadt her und beginnen eine Orgie von Morden, Vergewaltigungen und Plünderungen, die später den Ausdruck "Magdeburgisieren" prägen. Dabei verliert Knoll seine Frau und drei Töchter. Ihm gelingt über einen geheimen Stollen mit seinem Sohn Ulrich die Flucht. Unterwegs schließt sich ihm die Soldatenfrau Magdalena an, deren Mann als Söldner der Kaiserlichen auf der Gegenseite kämpfte, aber ebenfalls beim Kampf um Magdeburg starb.Thömmes erzählt geradlinig und schwungvoll. Der lyrische Schnörksel und eine übertriebene Charakterisierung der Gedankenwelt seiner Charaktere ist seine Sache nicht. Dennoch erschafft er keine Schablonen sondern wirkliche Menschen, die sich entwickeln und auch zu überraschen vermögen. Die Handlung treibt Thömmes dabei stets flott voran, verfängt sich nicht in Nebenfiguren oder allzu belehrenden Instruktionen zur Historie des Bierbrauens. Und dennoch erfährt man nebenher eine Menge über den Zeitgeist jener Epoche, die Lebensweise und die Umgangsformen. Man lernt quasi nebenher auf höchst unterhaltsame Art und Weise Geschichte.Wie Knoll und Magdalena einen Neuanfang versuchen - wie sie von elenden Kriegsflüchtlingen zu angesehenen Bürgern der traditionsreichen Bierstadt Bitburg (Thömmes Geburtsstadt) werden - und dann von feindlich gesinnten Fanatikern gnadenlos zerstört und gedemütigt werden, so dass der geradlinige Braumeister darüber sogar zum Mörder wird - all das ist hervorragend erzählt und ein wahrer Lesegenuss.Im richtigen Leben hat Thömmes mittlerweile seine Wanderjahre aufgegeben und sich mit seiner eigenen "Bierzauberei" in Brunn am Gebirge, nahe Wien, nieder gelassen. Dort braut der Bitburger nun seine obergärigen Spezialitäten: Biere, die einen ebenso würzigen und einzigartigen Charakter haben wie seine historischen Romanhelden.



Leonie Swann: Garou - Ein Schaf-Thriller (Roman)

Wollensstärke, das ist so eine Sache. Wenn der Tierarzt kommt, dieses Scheusal, ist es natürlich von Vorteil, wenn er weit weg ist. Oder man zumindest davonlaufen kann. Doch leider finden sie sich jedesmal wieder drin im Pferch, die ganze Schafsherde. Eingesperrt. Und der Tierarzt hat dann keine Mühe, sie zu schikanieren. Indem er sie mit Nadeln sticht, oder ihre Klauen bearbeitet - oder sonstige unangenehme Prozenduren vornimmt.Was wäre also die Lösung? Nicht in dem Pferch gehen, beispielsweise. Widerstehen. Dazu braucht es aber gewaltige Wollensstärke. Denn wenn Rebecca die Schäferin mit dem köstlichen Kraftfutter kommt und es im Pferch ausstreut, und sich der Duft über die ganze Weide verbreitet - wer wollte da widerstehen?Einen gibt es: Den seltsamen ungeschorenen Widder, mit seiner unglaublichen Wollensstärke. Der geht einfach nicht rein. Das wäre doch ein Vorbild? Einfach nicht reingehen, wenn Rebecca ihren Köder ausstreut,...Man taucht in diesem wunderbaren Schafskrimi in eine vollständig kuriose Welt ein - betrachtet die Menschen aus der Schafsperspektive. Und dann wird ermittelt. Sogar mit Hilfe der Ziegen, dieser vollständig vertrottelten stinkenden Tiere, die auch noch stolz auf ihre Verrücktheit sind. Leider werden sie gebraucht, weil sie über ein toll getarntes Loch in ihrem Zaun verfügen und außerdem Französisch verstehen. Diese fürchterliche Sprache in diesem Land, in das sie leider Gottes, aus Irland kommend, geraten sind. Neben ein Schloss, das früher eine Irrenanstalt war. Mit einem Werwolf, einem Garou, der Rehe umbringt und diese zu fürchterlichen Blut-Kunstwerken im Schnee ausbreitet. Ungemütlicher hätte ihr neues Zuhause nicht ausfallen können. Und Rebecca, ihre Schäferin, die sie alle sehr mögen, kapiert leider gar nichts. Weiß nicht in welcher Gefahr sie steckt und lässt sich auch noch mit den völlig falschen Männern ein.
Man gewöhnt sich rasch an diese amüsante Bande von Ermittlern, die meist haarsträubend daneben liegen mit ihrem kriminalistischen Eifer. Doch auch das ist rasend komisch: wenn sie vollständig ohne Gewissensbisse ein Todesopfer verschwinden lassen, weil sie meinen, ihre Schäferin hätte den Mann erschossen. Oder wenn sie einem Lastauto in der Garage eine pädagogische Geschichte erzählen, in der Hoffnung, es würde endlich aufwachen und dann aus Dankbarkeit die ganze Schafsherde fort bringen aus diesem mörderischen Umfeld.
Leonie Swann bezaubert mit ihrem zweiten Schafskrimi. Sie hat das Kunststück geschafft, einen der atemberaubendsten Perspektivenwechsel der Krimiliteratur vorzunehmen und verhilft uns damit zu einem außergewöhnlichen Vergnügen.



Ben Lewis: Das komische Manifest (Sachbuch)

Ich habe soeben ein hervorragendes Geschichtsbuch über Aufstieg und Fall des Kommunismus gelesen. Das Buch ist so gut und spannend geschrieben, dass ich seine 445 Seiten in einer Geschwindigkeit verschlungen habe, wie zuletzt vielleicht "Die Verblendung" von Stieg Larssen. Im Vergleich zum düsteren Krimi des Schweden hatte das Geschichtsbuch allerdings noch einen gewaltigen Vorteil: Die Lektüre war vergnüglich, machmal rührend unterhaltsam und oft so brachial komisch, dass ich losgebrüllt habe vor lachen.Autor des Buches ist Ben Lewis, 44, ein ehemaliger Kunstgeschichte Student aus Cambridge, der über seine Vorliebe für House-Musik und MTV zum Dokumentarfilm kam. Während der Dreharbeiten zu seinem mehrfach ausgezeichneten Film "Ceaucescu - Prunksucht eines roten Diktators" hatte Lewis das Problem, dass es sehr schwer bis fast unmöglich war, jene Dichter und Künstler, die den unfähigen Despoten einst in ihren Arbeiten verherrlicht hatten, zu einem Interview vor der Kamera zu überreden. Dafür stieß er immer wieder auf Witze aus jener Zeit und traf schließlich Doina, die eine Unzahl davon archiviert hatte. Lewis schienen die Witze "ein Gegengift" nach den unzähligen Propagandafilmen, die er gesichtet hatte - und er hörte Doina mit wachsender Faszination zu.
Doina saß in ihrer winzigen Wohnung und beschwor das alte Rumänien der achtziger Jahre für mich herauf. Sie zählte die bekannte Liste der Versorgungsmängel in den untergehenden kommunistischen Volkswirtschaften auf: Es gab kein Fleisch, kein Make-up, kein Toilettenpapier, keine Tampons, keine Heizung. Dann sagte sie: "Es gab damals den Witz: Was ist in Rumänien kälter als das kalte Wasser? Das warme Wasser." Wir lachten gemeinsam ein ganz besonderes Lachen, das Glucksen über unangenehme Wahrheiten, die allem Galgenhumor zugrunde liegt.
Für Lewis wurden die Witze zur Obsession. Und er verfiel auf jene Idee, die schließlich zum Buch wurde: Die Geschichte des Kommunismus über jene speziellen Witze zu erzählen, die nur in diesem Milieu entstehen konnte. Witze, die in unglaublicher Fruchtbarkeit überall wucherten und jede politische Entscheidung, jede Tragödie und jede Absurdität des realsozialistischen Alltags begleiteten.
Witze aus den Zwanziger Jahren beschreiben das Erstaunen der Menschen nach der Oktoberrevolution und der Umsetzung der neuen Staatsform.
Eine alte Bäuerin geht zum ersten Mal in ihrem Leben in den Moskauer Zoo und sieht dort ein Kamel. "O Gott", sagt sie, "was haben die Bolschewiken nur mit dem armen Pferd gemacht."
Eine Unzahl von Witzen widmen sich Stalins Charakter, seiner Grausamkeit und seinem eigenartigen Humor. Stalin griff selbst die Witze auf, die in der Bevölkerung über ihn kursierten. Wir lernen Stalins esoterischen Landwirtschafts-Minister Trofim Lyssenko kennen, einen ukrainischen Bauern, der mit der Behauptung Aufmerksamkeit erregt hatte, er pflanze im Winter erfolgreich Erbsen an. Stalin imponierte das und im Volk blühten die Witze über den Größenwahn dieser revolutionären Agrar-Strategie.
Hast du schon gehört, dass Genosse Lyssenko einen Unfall hatte? Er ist beim Petersiliepflücken von der Leiter gefallen.
Sämtliche große Errungenschaften, einschließlich des Radios und der Dampfmaschine, wurden von der kommunistischen Propaganda als Werke einheimischer Genies dargestellt. Das Volk quittierte das mit Hohn.
Wer hat den Rasierapparat entdeckt? - Iwan Petrowitsch Sidorow - im Mülleimer hinter der amerikanischen Botschaft.
In der Zeit des großen Terrors wurden Millionen von Unschuldigen Opfer von Stalins Paranoia. Auch seine engen Mitarbeiter konnten von einem Tag auf den anderen vom Helden zum Konterrevolutionär abstürzen. Einer der bekanntesten führenden Kommunisten, mit dem sich Stalin mehrfach überwarf und dann wieder versöhnte, der 1937 dann aber zu langjähriger Lagerhaft verurteilt wurde, war Karl Radek.
In einem Konzentrationslager in Sibirien unterhalten sich drei Insassen darüber, warum sie da sind. Einer sagt: "Ich bin hier, weil ich behauptet habe, Karl Radek sei ein Konterrevolutionär." Der zweite sagt: "Das ist ja interessant. Ich bin hier, weil ich gesagt habe, er sei kein Konterrevolutionär." Die beiden fragen den dritten. "Und warum bist du hier?" "Ich bin Karl Radek."
Als einen der vielen Höhepunkte des Buches beschreibt Lewis eine Folge der Simpsons, wie sie aussehen würde, wenn sie im Russland der Siebziger Jahre spielen würde. Und es gelingt ihm das Kunststück, eine ganze Rahmenhandlung der "Simpsonowitschs" ausschließlich über eine Aneinanderreihung von zeitgenössischen Witzen zu erzählen. Unter anderem wurde darin Lenins These aufgegriffen, dass erst über die "Lernphase" des Sozialismus der Idealzustand des Kommunismus erreicht werden würde.
"Papa", sagt Bartski, "werden wir Wurst im Kühlschrank haben, wenn wir den Kommunismus erreicht haben?" "Ja", sagt sein Vater, "und jeder wird sein eigenes Flugzeug haben." "Warum?", fragt Bartski. "Na ja", sagt sein Vater, "stell dir vor, wir leben in Moskau und hören, dass es in Wladiwostok Wurst zu kaufen gibt. Dann können wir in unser Flugzeug steigen und hinfliegen. Dann sind wir die Ersten in der Schlange."
Der besondere Reiz an Lewis Arbeit besteht in ihrer autobiografischen Note. Immer wieder tauchen Passagen auf, in der er die Häkeleien zwischen ihm und seiner Freundin einfließen lässt. Ariane ist Malerin, in der DDR aufgewachsen und überzeugte Neo-Kommunistin. Lewis nervt sie mit seinem Faible für Ostblock-Witze und der Strenge seines Urteils über die Dummheit dieser Ideologie. Schließlich zerbricht daran auch ihre Beziehung.Lewis ist überhaupt genial streng. Er reist durch alle Ostblock-Länder, interviewt unzählige Künstler, Satiriker, Proponenten und Gegner des untergegangenen Regimes. Doch niemand ist vor seinem beißenden Sarkasmus sicher. In wenigen Sätzen charakterisiert er seine Gesprächspartner als Säufer, Trottel oder eitle Gecken. Besonders hart ist sein Urteil über den ehemaligen Polnischen Präsidenten und Chef der Solidarnosc Lech Walesa, den er als strohdummen, von seiner eigenen historischen Bedeutung besoffenen Aparatschik darstellt. Kaum besser kommt der Ex-Staatschef der UdSSR, Michael Gorbatschov weg, der Lewis wochenlang wegen eines Termins hinhält, bis dieser schließlich auf Umwegen erfährt, dass das Interview nur von der Zahlung eines (unverschämt hohen) Honorars abhängt.
Bis zum Schluss quält sich Lewis mit seiner grundlegenden Forschungsfrage, welche Rolle nun der Witz beim Untergang des Kommunismus spielte. Er arbeitet sich daran wütend über sich selbst und viele falsche Fährten bis zur Verzweiflung ab. Sogar bei dieser zermürbenden Suche nach der Wahrheit liefert er aber ein Niveau, das großartig unterhält und den verwelkenden Witzen des untergegangenen Systems in einem Stil folgt, der seinesgleichen sucht.Auf englisch trägt das Buch den genialen Titel "Hammer & Tickle", auf deutsch ist es kürzlich - nicht weniger treffend - als "Das komische Manifest" im Verlag Blessing erschienen.Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, betone ich noch einmal, dass es keine unterhaltsamere Art gibt, auf hohem Niveau Geschichte zu lernen - und spreche hiermit eine strenge Kaufempfehlung aus.



Giampaolo Simi: Camorrista (Roman)



"Sie wissen es ja eigentlich, dass sie früher oder später Asphaltfleisch werden. Früher oder später erledigt sie jemand, als wären sie Schlachtvieh. Eine Frage der Zeit. Manchmal nicht einmal von viel Zeit." Der 45-jährige italienische Journalist und Drehbuchautor Giampaolo Simi widmet sich in seinem neuen Krimi der Camorra, den neapolitanischen Familienclans, die als kriminelle Parasiten der Gesellschaft in Politik und Wirtschaft die Fäden ziehen. Simi präsentiert uns diese Typen mit den Augen von "Rosa elettrica", so der italienische Titel des Romans. Die elektrische Rosa ist eine 30-jährige Polizistin, gescheiterte Philosophie-Studentin, die durch eine Reihe eher unerfreulicher Ereignisse bei der Polizei gelandet ist: beispielsweise den Konkurs und psychischen Niedergang ihres Vaters, der ein wenig zu früh auf den Trend zu Bio-Lebensmitteln setzte - und damit finanziellen Schiffbruch erlitt. Erst ganz am Ende dieses unglaublich dichten und berührenden Werks wird Rosa drauf kommen, dass auch diese persönliche Tragödie ihrer Familie unmittelbar mit den Machenschaften der Camorra zu tun hat.Rosa bekommt den Auftrag, als "Schwester" eines Aussage-willigen Mafioso aufzutreten und diesen Typen zu bewachen, bis seine Papiere und seine zweite Existenz im Zeugenschutzprogramm vorbereitet sind. Eine Woche, wird sie beruhigt, soll sie durchhalten, dann ist sie diesen Typ wieder los. Doch es kommt anders.Dieser Typ, das ist Cociss - ein 18jähriger schwer kokainsüchtiger Mafia-Jungstar, der sich nach seinem Hund benannt hat. Einem Bullterrier, den er gemeinsam mit seinem Bruder zum Kampfhund ausgebildet hat. Mit martialischen Methoden. Der Hund hat ihn dabei fast umgebracht und sein Hinterkopf ist von Narben übersät. Doch die Ausbildung war erfolgreich. Die Bulldogge entwickelte sich zum gefürchteten Champion, bis sie eines Tages einen Kampf nur knapp überlebte. Cociss entführte seinen Hund aus der Arena, um ihm das Leben zu retten. Er päppelte ihn auf - und die Bulldogge lernte blind und verrückt wieder einigermaßen zu humpeln. Bis Cociss von seinem Vorgesetzten im Regime der Camorra seine erste Pistole geschenkt bekam. Und als Zeichen seiner Unterordnung und Disziplin den Hund erschießen sollte. Cociss bestand die Aufnahmeprüfung.Dieses psychisch schwer missbrauchte mörderische Kind, dieser Analphabet der wenige Kilometer neben dem Meer wohnt, es aber noch nie gesehen hat - weil seine Arbeit als lokaler Drogenboss ständige Kontrolle und Anwesenheit erforderte ' dieser überhebliche unberechenbare Bastard weiht Rosa in einige seiner intimen Geheimnisse ein. Aus Berechnung, aus Zuneigung - das bleibt unklar. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Beziehung, die zwischen den Polen extremer Abscheu und einer abartigen Form gegenseitiger Anziehung schwankt. Es ist keine lineare Entwicklung, sondern ein heftiger Schleuderkurs, der Rosa und Cociss einaher näher bringt und - über eine dramatische Flucht nach Deutschland und schließlich nach Schottland - treibt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt in einem Roman eine derart spannende Beziehung zweier so kontroverser Charaktere erlebt habe wie hier zwischen der Polizistin und dem jungen Mafioso.Giampaolo Simi hat mit diesem Roman auch im deutschen Sprachraum seinen Ruf als einer der interessantesten italienischen Krimi-Autoren gefestigt. Er versteht die Kunst der Nuancierung ebenso wie den dramatischen Suspense. Und er gewährt Einblicke in die Persönlichkeitsstrukturen und das Beziehungsgeflecht zwischen Polizei und Mafia, die über die bekannten Klischees weit hinaus gehen.Am Ende sitzt Rosa mit dem Transvestiten Joséphine im Morgengrauen. Sie weint nicht. Sie weint nie mehr, nimmt sie sich vor. Aus Angst, dass sich mit den Tränen auch das Gesicht des untergetauchten Mafia-Bosses auflösen könnte, der aus der Anonymität die Fäden zieht und für all den Schmerz verantwortlich ist."Ich werde warten", endet der Roman. "Ich werde warten, bis sich der Schmerz in Mut verwandelt."Besser kann man auf eine (hoffentlich bald erscheinende) Fortsetzung nicht einstimmen!



Daniel Depp: Stadt der Verlierer (Roman)

Mit 56 Jahren hat Daniel Depp nun mit "Stadt der Verlierer" seinen ersten Roman veröffentlicht. Er ist "John" gewidmet, seinem zehn Jahre jüngeren Halbbruder.In Interviews erzählt Daniel, wie nahe die Beziehung zu seinem Bruder ist, dass er das Buch zum Großteil in Johnnys Haus in Frankreich schrieb und dass er sogar überlegte, es unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, weil sonst jeder denken würde, dass der Hollywood Superstar Bobby Dye - die umschwärmte und bedrohte Hauptfigur von "Stadt der Verlierer" eigentlich sein Bruder wäre. Doch John sagte ihm, er solle sich darum nicht kümmern. ' Zurecht.Niemand würde in diesem blassen Charakter, der stets zwischen Aufbegehren und Anpassung schwankt - dann aber doch verlässlich nach der Pfeife seines Produzenten, seiner Agentin oder seiner Supermodel-Freundin tanzt - Johnny Depp vermuten.Doch Daniel kennt natürlich die Szenerie genau, beschreibt die verschiedenen Charakter-Typen die das Filmbiz bevölkern mit sarkastischer Ironie und lässt in den Dialogen sein komisches Talent aufblitzen. Und so entwickelt sich die Handlung irgendwo zwischen "Pulp Fiction" und "Get Shorty" - was ja an sich für vergnügliche Unterhaltung stünde.Bloß leider hat Daniel Depp mit seiner Hauptfigur, dem Privatdetektiv David Spandau, einen Held geschaffen, der - von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - nie in Fahrt kommt. Die meiste Zeit hängt er als eine Art Leibwächter von Bobby Dye in dessen Umgebung rum und lässt sich von allen möglichen Leuten beleidigen. Mindestens zehn Mal betont er, dass er es satt hat, dauernd beschimpft zu werden. Doch er steht eben unpassend im Weg rum. Und das fällt auch den anderen Figuren zunehmend auf.Dies heißt nun nicht, dass in diesem Roman nichts abgeht. Doch Depp hat einen wirklich außergewöhnlichen Hang zur demokratischen Aufteilung der Heldenrollen - und bald gibt es eine ganze Reihe von Typen, welche Spandau den Rang ablaufen. Allen voran dessen alter Freund Terry, ein nur 1,61 Meter kleiner irischer Womanizer, der seine mangelnde Körpergröße notfalls mit einem Mix aller möglicher Kampfsportarten ausgleicht. Terry findet in diesem Buch die Liebe seines Lebens, ebenso wie der Mafioso und Clubbesitzer Richie Stella oder dessen Handlanger Potts, zwei weitere Nebendarsteller, die Spandau an Originalität überstrahlen. Manchmal sind diese Lebenslieben auch ident. Etwa wenn Allison, die attraktive Geschäftsführerin von Stellas Club sowohl Richie als auch Terry schöne Augen macht. Mit fatalen Konsequenzen.Depp kümmert sich um seine Helden, manchmal wird in der Schilderung der Herkunft etwas weit ausgeholt, aber nie so, dass die Handlung darunter leidet. Im Gegenteil: Der Schluss bietet ein dramatisches Finale, das nur einen Nachteil hat: Spandau hat kaum Anteil daran. Mittlerweile hat man sich an die anderen Darsteller aber so gewöhnt, dass dies kaum noch stört.Es heißt, Daniel Depp schreibt derzeit an seinem zweiten David Spandau - Krimi. Vielleicht gönnt er seiner Hauptfigur ja darin ein paar stärkere Szenen. Hier gleicht Spandau einer dauernd entsicherten Granate - die nie explodiert. Ich bin dennoch gespannt auf die Fortsetzung.



Michael Crichton: Gold (Roman)

Für mich war dieses Buch, das nach Michael Crichtons Tod auf dessen Computer gefunden wurde, eigenartigerweise das erste dieses Autors. Viele Male hatte ich mir schon vorgenommen, endlich mal eine Kostprobe der gerühmten Spannungsdramaturgie zu nehmen. Ein Freund schwärmte mir vor, dass es - etwa für einen Flug in die USA - überhaupt keine bessere Literatur gäbe, als eben einen Crichton. Zudem habe ich hier und da auch interessante Zitate aus Interviews gelesen, die mich neugierig auf diesen Schriftsteller - mit Ursprungsberuf Arzt - machten.
Eine Piratengeschichte zu lesen, klang für mich zunächst völlig absurd: Freibeuter in der Karibik, spanische Schiffe überfallen, Goldschätze stehlen. Hier scheint beinahe jede Wendung schon genommen - bis hin zur komisch-absurden Persiflage, wie im "Fluch der Karibik".Aber irgendwie hat mich gerade dieses - bereits von hundert Seiten beleuchtete - Thema gelockt: was würde ein Könner wie Crichton hier beitragen, wie geht er das Thema an, wie zeichnet er die Figuren?
Es beginnt wie bei Ocean's Eleven mit der Sammlung eines wirklich hervorragend skurrilen Rattenpacks von Abenteurern, mit denen die Hauptfigur Captain Charles Hunter einen spektakulären Raubzug auf eine spanische Festung plant. Jedes Mitglied im Team hat ein paar Macken, aber auch spezielle Fähigkeiten, die später wichtig werden. Crichton skizziert die Figuren mit schnellen Strichen. Sie werden damit nicht wirklich "echt" - aber vorstellbar. Sie stürzen sich ins Abenteuer - und hier folgt das, was mich bei diesem Roman am meisten begeistert hat: Die Handlung ist nie vorhersehbar, bietet abenteuerliche Wendungen, wenn man diese nicht erwartet - und folgt strikt dem Plan, wenn man mit heftigen Zwischenfällen rechnet. Einige der Einfälle sind wahrhaft grandios. Dazu sind die Kapitel kurz und knapp, es gibt kaum Schnörkel oder Ausschweifungen.
Ich hatte das Buch in drei Tagen durch, las es mit Freude und großer Spannung. Mit dem Angriff eines See-Ungeheuers hat Crichton nur ein einziges Mal den Handlungsbogen zur Kitschgrenze überspannt: dafür habe ich einen Stern abgezogen. Davon abgesehen aber ein ganz tolles makelloses Werk der unkomplizierten Spannungslektüre. Es wäre ein äußerst kurzweiliger Übersee-Flug geworden.



Damon Galgut: Der Betrüger (Roman)

Der südafrikanische Autor Damon Galgut erschafft in diesem Roman Charaktere, die völlig eigenständig sind und keinerlei Klischee entsprechen. Dasselbe gilt für die Handlung: Sie hört sich so eigenartig an, dass man darin kaum Spannung vermutet. Doch das täuscht. Man kann das Buch kaum aus der Hand legen.
Adam, ein Aussteiger in der Midlife-Crises, der Job und Haus verloren hat, erinnert sich an seinen Jugendtraum, Gedichte zu schreiben. Sein Bruder bietet ihm ein Haus in einer abgelegenen Gegend an, das er einst gekauft und gleich wieder vergessen hat.Dort lebt Adam untätig in den Tag hinein, verliert sich immer mehr in Tagträumen, die rapide in Wahnsinn und Depression führen. Er ist zu nichts fähig. Weder kann er das Unkraut entfernen, das seinen Garten überwuchert - noch findet er die ersehnte lyrische Inspiration. Seinem fleißigen Nachbarn Blom weicht er aus. Sogar als dieser Adams Wasserpumpe repariert, verachtet er ihn weiter als ungebildetes Landei. Bloms Annäherungsversuche sind wiederum höchst unbeholfen. Ab und zu kommt er halb betrunken mit billigem Brandy zu Adam, der ihm angeekelt ausweicht.
Schließlich begegnet Adam zufällig seinem ehemaligen Mitschüler Canning, einem zwiespältigen Menschen, der von seinem Vater ein regelrechtes Paradies geerbt hat: Gondwana. Canning, hasste seinen Vater inbrünstig - und nach und nach stellt sich heraus, dass Canning vor allem eine große Idee antreibt: sich über den Tod hinaus an seinem Vater zu rächen. Sogar die Wahl der schwarzen Ex-Prostitutierten "Baby" als neue Ehefrau sieht Canning als eine Abrechnung an dem weißen Jäger und Patriarchen.
Galguts Figuren sind alles andere als sympathisch. Adam, der in allen seinen Lebenszielen und Gefühlen kalt und egoistisch bleibt. Der rätselhafte Blom, der sich absolut sicher ist, dass Adam ihn eines Tages töten wird. Canning mit seinen schizophrenen Schwankungen von innigster Zuneigung zu sofortigem abgrundtief zynischem Hass. Und schließlich Baby, die in Ihrem Leben vor allem eines gelernt hat: dass Ihre makellose Schönheit besser von ihr selbst, als von anderen benutzt wird, um Ziele zu erreichen. So betrügt sie Canning skrupellos - auch mit Adam, der über der Sehnsucht nach Sex plötzlich wieder zum Dichter wird.
Das Buch entwickelt einen unglaublichen Sog und es führt tief in das "neue Südafrika", mit seinen turbokapitalisitischen Boom-Städten, dem Elend in den rasch herausgestampften Slums mit Namen wie "Nuwe Hoop" - und den allzeit korruptionsbereiten Politikern. Und es zeigt ein faszinierendes Beziehungsgeflecht, das aus einer Vergangenheit wuchert, die von allen Beteiligten verdrängt und gefürchtet wird.



Franz Dobler: Aufräumen (Roman)
Enormen Sog entwickelt dieser Roman von Franz Dobler, ich habe stilistisch seit langem nichts Besseres gelesen. Beat heißt nicht nur die Hauptfigur, auch der Rhythmus der Geschichte hat einen dampfenden dröhnenden Beat. Das beginnt bereits mit dem ersten Satz: "Austickender Mann in der Straßenbahn". Eine Episode, die jeder kennt: ein Spinner schreit herum - ohne erkennbaren Grund. Ein frustrierter Typ knapp vor dem Amoklauf.Auch Beat selbst führt ein Leben nahe am psychischen und existenziellen Abgrund - mit drei Jobs und wenig Zukunft. Bis er durch eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße in eine humorige, spannende und abartige Love- & Crimestory schlittert.Ich habe letztes Jahr Doblers informative und detailverliebte Cash-Biografie gelesen. Hier in der Romanform kann er nun endlich seinen lyrischen Freestyle pflegen. Und der ist vom Feinsten! Ich habe dieses Buch gefressen, wie schon ewig keines mehr seit dem "Herr Lehmann". Wie Sven Regeners Bestseller geht auch "aufräumen" fast über vor irrwitzigen Charakteren und Dialogen, die eine sofortiger Verfilmung verlangen. Dazu noch eine perfekte Dramaturgie, die mit jeder Seite den Lese-Sog erhöht.Unbedingte Kaufempfehlung!



Thalassa Thalassa - Rückkehr zum Meer (Film)

Ich habe mir den Film gemeinsam mit meinen Kindern angesehen und dachte ich träume. Dies ist mit Abstand der amoralischste Kinderfilm, der mir jemals untergekommen ist.Da geht ein kleiner Bruder verloren, und alle sind irgendwie erleichtert. Ein anderes Kind stirbt, doch es wird kein Wort darüber verloren. Das Mädchen wechselt ihre Verehrer wie die Hemden und als alle es auf die Pistole abgesehen haben und sie unter Lebensgefahr beschaffen wollen, platzt plötzlich die Blase eines Kaugummis: und schon ist dies das begehrenswerte neue Ziel.Es liegt eine unglaubliche Anarchie über diesem rumänischen Film, eine unglaubliche Lässigkeit und die beinahe übermenschliche Leistung des Regisseurs, diesen Kindern die pure Lust am Spiel durchgehen zu lassen. Bis in den Irrsinn.
Ein absolutes Meisterwerk!



Richard Birkefeld, Göran Hachmeister: Wer übrig bleibt hat recht (Roman)

Wie gings zu im letzten Weltkriegswinter. In der völlig zerstörten Stadt Berlin, wo täglich die Tommys mit ihren Bombern kamen? Wie lebten die Menschen unter derartigen Umständen. Was machten die Umstände aus den Menschen?Eine schöne Aussicht haben Sie hier, sagt der Gestapo Mann Kalterer zu einem 70jährigen Sozi, den er in dessen Wohnung verhört. "Ja," sagt der alte Mann, "alle beneiden mich um diese Aussicht. Und das beste ist: Sie ändert sich fast täglich." Der Gestapo Mann Kalterer schlägt ihm danach den Kopf zweimal mit voller Wucht auf die Tischplatte. Routiniert, so wie er es in seiner Ausbildung bei renitenten Verdächtigen gelernt hat.Haas, der Mann, den er jagt, marodiert einstweilen in einem Blutrausch durch die Stadt. Er hat alles verloren, was ihn aufrecht hielt und auf der Spurensuche nach dem Untergang seiner Familie kommt alles schlimmer und schlimmer.Kalterer, der karrieregeile Gestapo Mann, hat noch Hoffnung. Hoffnung seine Frau wieder zu gewinnen. Seine Frau Merit, die die Nazis hasst und sich vor ihm ekelt.Kalterer und Haas sind die beiden Haupt-Charaktere in diesem fantastischen Sittenbild, das seinen Detailreichtum wohl den Hauptberufen der beiden (!) Autoren verdankt. Sie sind Historiker und sie sind noch etwas: Begnadete Geschichtenerzähler, die es verstehen den Leser in einen Sog von Spannung zu ziehen, der gegen Ende hin immer noch mehr zunimmt. Ein unglaubliches Debüt!!

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