Bert Ehgartner live

Montag, 16. März 2020

Corona-Pandemie: Der britische Umgang mit der Krise

Während weltweit Isolation verordnet und das öffentliche Leben weitgehend unterbunden wird, geht Großbritannien einen Sonderweg. Schulbetrieb und Geschäftsleben laufen großteils weiter wie bisher. Die wissenschaftliche Steuerungsgruppe der Corona-Krise rund um Chef-Berater Patrick Vallance nahm bisher Abstand von drastischen Beschränkungen. Vallance spricht sogar davon, dass die Verbreitung der Viren erwünscht sei, weil damit "eine gewisse Herdenimmunität" geschaffen wird. Dadurch würden viele Kinder und Erwachsene, die ohnedies nur leicht erkranken, immun. "Wir reduzieren damit das Übertragungsrisiko und schützen jene, die am stärksten gefährdet sind: ältere und chronisch kranke Menschen."

Patrick Vallance erklärt via BBC das britische Vorgehen 

Diese Taktik steht in krassem Gegensatz zu dem, was derzeit in Rest-Europa abläuft: In Italien und Spanien werden landesweite Ausgangssperren überlegt, das öffentliche Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen. Deutschland schließt - wie viele andere europäische Länder - seine Grenzen. In Tirol sind mehrere Gemeinden isoliert worden, ganz Österreich hat die Schulen und die meisten Geschäfte geschlossen. Alle Europacup-Bewerbe im Fußball sind - wie alle anderen größeren Sport- und Kulturveranstaltungen – abgesagt. Wer nicht gerade im Supermarkt oder im Gesundheitswesen beschäftigt ist, so die allgemeinen Ratschläge, soll möglichst zu Hause bleiben und im Home-Office arbeiten. Spaziergänge - hieß es heute in den Früh-Nachrichten - seien zwar erlaubt, – aber nur kurz und in Gruppen von höchstens fünf Familienmitgliedern.
Soweit der Alltag derzeit in Europa in Zeiten der von der WHO deklarierten COVID-19-Pandemie.


Alles zum Schutz der Alten

Restriktionen und Quarantäne sind allgegenwärtig. Viele Berufsgruppen erleiden massive Einkommens-Verluste, das Wirtschaftssystem bricht ein. In den Seniorenheimen herrscht Besuchsverbot. Alleinerziehende Mütter und Väter haben enorme Schwierigkeiten, die Auflagen zu befolgen - zumal Großeltern als mögliche Aufsichtspersonen ausfallen. "Kinder dürfen keinesfalls zu den Großeltern gebracht werden", erklärte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz. "Denn das sind die Personen, die wir bestmöglich schützen wollen."
Allen Kritikern der extremen Maßnahmen tönt es entgegen: "Was ist wenn es Deine Eltern trifft?" – Wer sich nicht an die Vorgaben hält, gefährdet deren Leben, heißt es. – Das erklärte Ziel all dieser Notfall-Pläne ist es, den rasanten Anstieg der Todesfälle bei älteren Menschen - wie er derzeit in Italien beobachtet wird - zu begrenzen. Doch gibt es tatsächlich nur diese eine Methode, die derzeit Europa lahm legt, um die Alten zu schützen?


Großbritanniens Sonderweg

Es ist keineswegs so, dass Großbritannien gar nichts macht. Die Expertengruppe um den Chief Medical Officer Chris Whitty, seine Stellvertreterin Jenny Harries, den Chief Scientific Adviser Sir Patrick Vallance und die Verhaltenspsychologin Susan Michie haben ein ganzes Paket an Verhaltensregeln veröffentlicht:
  • Personen mit Grippe-ähnlichen Symptomen und Fieber über 37,8 Grad oder dauerhaftem Husten sollen sich von anderen Menschen fern halten und sieben Tage zu Hause bleiben
  • Ältere und chronisch Kranke Menschen sollen Situationen meiden, wo man mit vielen Menschen in Kontakt kommt
  • Immer wieder zwischendurch für 20 Sekunden die Hände mit Seife waschen
  • Beim Niesen oder Husten ein Taschentuch verwenden
  • Fassen Sie sich möglichst wenig mit den Händen ins Gesicht
Je nachdem, wie sich die Situation entwickelt, wird auch überlegt, dass ältere und chronisch Kranke zu Hause bleiben und dort versorgt werden sollen. 
Der Mediziner Patrick Vallance, bis vor kurzem noch Forschungsdirektor beim Pharmakonzern GlaxoSmithKline und nun oberster wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung, geht nicht davon aus, dass es sinnvoll ist, die Übertragung der Viren durch noch drastischere Maßnahmen zu unterbinden. "Quarantäne funktioniert nicht perfekt und außerdem kann man dies den Menschen nur über eine kurze Zeit zumuten." Deshalb, so Vallance, komme es auf das Timing an. Am wichtigsten sei es, zu vermeiden, dass viele Menschen gleichzeitig krank werden. Und dafür reichten die bisherigen Regeln aus.
Damit werde die Epidemie zwar etwas länger dauern, doch die Ressourcen des Gesundheitssystems würden nicht überfordert. Außerdem werde der kommende Frühling das seine tun, um die Erkältungsviren zurück zu drängen.
"Den Sombrero flach drücken", übersetzte Premier Boris Johnson den Briten diese Taktik, den Ausschlag der Epidemiekurve zu drosseln. Man werde in dieser Krise zwar "geliebte ältere Menschen vor der Zeit verlieren", sagte Johnson. Doch er vertraue darauf, dass sich der britische Weg als der nachhaltig bessere erweist.

Massive Kritik kam von allen Seiten. Rechtspopulist Nigel Farage warf ihm einen "Mangel an Führungsstärke" vor. Der ins Abseits gedrängte Ex-Gesundheitsminister Jeremy Hunt zeigte sich besorgt, dass Großveranstaltungen nicht abgesagt wurden. Und mehr als 200 Wissenschaftler unterzeichneten einen Aufruf, dem Beispiel Europas zu folgen und schärfere Maßnahmen zur Vermeidung einer weiteren Ausbreitung zu treffen.
"Es ist doch viel wahrscheinlicher, dass sich die Leute im eigenen Zimmer bei Familienmitgliedern anstecken als in einem großen Raum", konterte Vallance. Außerdem mache es einen enormen Unterschied, ob man sich - sozusagen im Vorbeigehen - eine Infektion mit einer geringen Virenlast einfängt - oder ob ein frisch Infizierter die ganze Nacht im Ehebett den Partner anhustet.
Dass die "initiale Virenlast" eine beträchtliche Rolle spielt und für schwere Verläufe ursächlich sein kann, ist tatsächlich infektiologisches Basiswissen.
Boris Johnson gab dem Druck im Lauf des Tages immer mehr nach. Großveranstaltungen über 500 Teilnehmern müssen jetzt auch in Großbritannien abgesagt werden. Und weitere Verhaltens-Anpassungen werden - ähnlich jenen in der EU - wohl bald folgen. 


Warum ist die Lage in Italien so eskaliert?

Gegen Ende Februar gingen die Fallzahlen in Italien massiv in die Höhe und lösten eine Lawine lebensgefährlicher Erkrankungen aus, wie das davor nur beim Ursprung der COVID-19 Epidemie in der chinesischen Stadt Wuhan beobachtet worden war. Wie ist das zu erklären?
Rasch kamen Spekulationen auf, dass es sich beim Ausbruch um einen Direktimport aus China handelte. In Oberitalien gibt es mehr als 1000 Textilbetriebe, welche unter chinesischen Arbeitsbedingungen bei Stundenlöhnen von wenigen Euro und dem verkaufs-fördernden Etikett "Made in Italy" schnelle Mode – "pronto moda" – erzeugen. Meist werden diese Betriebe von Chinesen geführt, die im Auftrag großen Modeketten – oder für die Wochenmärkte – arbeiten. Rund 60.000 Arbeiter logieren unter meist miserablen Bedingungen in Massenquartieren. Viele von ihnen sind Schwarzarbeiter und nicht versichert. Deshalb konnten sie auch schwer zum Arzt gehen.
Die Mehrzahl der Textilarbeiter stammt aus der 9-Millionen-Einwohner Stadt Wenzhou. Und das war die erste Metropole außerhalb der Krisen-Provinz Hubei, die ebenfalls wegen der Corona-Krise unter Quarantäne gestellt wurde. Das geschah Anfang Februar.
Rund um das Chinesische Neujahrsfest, das am 25. Januar gefeiert wurde, gibt es alljährlich eine große Reisetätigkeit - und dabei ist es durchaus möglich, dass über frisch infizierte Textilarbeiter größere Viren-Exporte nach Italien statt gefunden haben.
Das Magazin zack-zack.at erstellte eine Grafik, in der die Corona-Fälle mit dem Anteil der in der jeweiligen Provinz gemeldeten chinesischen Staatsbürgern korreliert wurden. Die Übereinstimmung ist recht eindrucksvoll.

Direktimport der Coronaviren aus China? (Quelle: zack-zack.at)
Tatsache ist, dass es in Italien niemals gelungen ist, den so genannten "Patient Null" zu finden. Es ist deshalb wahrscheinlich, dass es bereits über mehrere Wochen zu einer unbemerkten Ausbreitung der Viren gekommen ist, die dann in einem plötzlichen Epidemie-Peak mündete. Annähernd gleichzeitig  wurden in manchen Regionen Dutzende schwer kranke Menschen in die Kliniken eingeliefert. Die Isolationsräume waren rasch belegt, Atemschutzmasken und sonstiges Krisen-Equipment gingen aus. In der Folge steckten sich zahlreiche Beschäftigte in den Kliniken an. Die Krise bringt bis heute das italienische Gesundheitssystem an die Grenzen der Belastbarkeit. Allein gestern, am Sonntag, dem 15. März wurden 368 neue Todesfälle gemeldet. Bereits heute mittag, rechnen die Experten, werde die Grenze von 2.000 Todesfällen überschritten. Das Durchschnittsalter der Verstorbenen liegt laut einer ersten Übersichtsstudie bei 81 Jahren. Bei vielen dieser Personen sei es allerdings nicht klar, erklärten italienische Mediziner, ob die Viren oder die sonstigen schweren Erkrankungen der Patienten ursächlich für das Ableben waren.

Mit der enormen Durchseuchung in regionalen Hot Spots unterscheidet sich die Situation in Italien jedoch stark von den meisten Ländern Europas, wo sich die Fälle viel gleichmäßiger verteilen. Damit ist es auch leichter, die kranken Menschen zu identifizieren und diese zu isolieren.


Enorme Infektionsrate in Wuhan

Aus Italien liegen noch keine konkreten Zahlen vor, wie hoch in den betroffenen Provinzen der Anteil der Infektionen in der Gesamt-Bevölkerung ist. Wenn sich auch hier eine Parallele zu China findet, so wäre das die lange gesuchte Erklärung für den ungewöhnlichen Sturm auf die Kliniken.
Aktuelle Untersuchungen der Situation in China fanden nun nämlich, dass in der Stadt Wuhan 19,1% der Bevölkerung mit den mutierten Viren infiziert waren. Damit kamen hunderttausende alte und chronisch kranke Menschen mit den Viren in Kontakt. Und auf Basis dieses massiven Eisberges ist auch erklärbar, warum deren katastrophale Spitze sichtbar wurde.
Nachdem nun die Gesamtzahl der Infekte in Wuhan bekannt ist, war es auch möglich, das Sterberisiko, das ursprünglich mit 4,2% angegeben worden war, neu zu berechnen. Und nun kommen die Wissenschaftler auf eine Rate von 0,04 bis 0,12%, das sich tatsächlich kaum noch vom Sterberisiko anderer grippaler Infekte unterscheidet.

Erste Daten aus Italien zeigen, dass in den Zentren der Infektion die Situation ähnlich sein könnte. Sergio Romagnani, Professor für Immunologie an der Universität Florenz, veröffentlichte Infektionsdaten aus dem schwer betroffenen Dorf Vo 'Euganeo, das seit Wochen unter Quarantäne steht. "Die überwiegende Mehrheit der mit Covid-19 infizierten Menschen, zwischen 50 und 75%, ist völlig asymptomatisch und stellt eine gewaltige Ansteckungsquelle dar", erklärte der Mediziner gegenüber La Repubblica.


Sind die enormen Beschränkungen des öffentlichen Lebens gerechtfertigt?

Wäre es also vernünftiger, dem entspannteren britischen Weg zu folgen und die Isolations-Maßnahmen auf den Schutz der konkreten Risikogruppen zu konzentrieren? Auf Basis unseres Wissens über die biologischen Hintergründe spricht einiges dafür.
Rationaler ist der britische Weg jedenfalls, als viele der Hysterie-fördernden Bonmots, die man rundum von diversen Experten hört. Beispielsweise die Aussage des Wiener Wissenschaftlers Josef Penninger, der generalisierend behauptet hatte, dass Coronaviren "30 mal tödlicher" seien als Influenzaviren. Um diese Zahlen zu fabrizieren, muss man jedoch die höchsten Sterberaten aus China oder Italien zugrunde legen und die Dunkelziffer der vielen leicht verlaufenen, nicht getesteten Infektionen unter den Tisch fallen lassen.
Ebenso drastisch klingt eine Aussendung des "Complexity Science Hub" (CSH) an der Universität Wien, das sich mit Modellrechnungen hochkomplexer Systeme beschäftigt. Ohne die Einführung der drastischen Maßnahmen der Regierung hätten sich die Erkrankungszahlen in Österreich alle 2,27 Tage verdoppelt, verlautbart CSH-Vorstand Stefan Thurner. Damit wäre die "exponentielle Ausbreitung" der Infektionswelle noch rascher vorangeschritten als in Italien (Verdoppelungszeit 3,4 Tage). Dass die epidemiologische Situation sich – wie oben erwähnt – von jener in Italien massiv unterscheidet, wird dabei allerdings nicht berücksichtigt.
Auch die konkreten Daten der CSH-Modellrechnung werden derzeit von der Aktualität überholt - und sehen aus der Perspektive der Gegenwart weniger gut aus. So heißt es beispielsweise, dass in Tirol bereits am 16. 3. die Kapazitätsgrenze bei den Intensivbetten erreicht sein wird. Auf ORF-Tirol liest man – am Nachmittag des 16. 3. – hingegen folgendes: "Nur ein Bett auf der Innsbrucker Intensivstation ist derzeit mit einem Corona-Infizierten belegt – dieser soll aber bald auf ein „Normalbett“ verlegt werden."

Wissenschaftler der Universität Wien modellierten den Ernstfall - mit und ohne Massnahmen

Rund herum überbieten sich Experten mit ähnlich fundierten Warnungen und treiben damit die Politik zu immer radikaleren Maßnahmen. Möglicherweise haben diese Wortmeldungen aber auch bloß damit zu tun, dass es nun um die Verteilung von Fördergeldern für Impfstoffe, Medikamente und sonstige Expertisen geht. Und meist bekommen jene Experten, die am lautesten schreien, das größte Stück vom Kuchen.

PS: Das Sterberisiko in der Bevölkerung ist generell im Winter höher als in den wärmeren Monaten. Die aktuellen Daten für Europa (Stand vom 8. 3. 2020) zeigen, dass der heurige Winter diesbezüglich der mildeste seit vier Jahren war. Besonders im Winter 2016/17 aber auch im Winter 2017/18 gab es eine deutlich höhere Winter-Sterblichkeit als 2019/20. Dies gilt im speziellen auch für Italien, wo bisher weniger Menschen starben als in durchschnittlichen Wintern.

Sterbezahlen europäischer Länder der letzten vier Jahre (Daten: EUROMOMO.eu)