Montag, 8. Februar 2010

"Die Kostenspirale steigt ins Unbezahlbare"

Der deutsche Krebsmediziner Wolf-Dieter Ludwig über die Unzahl neuer teurer Wirkstoffe in der Onkologie und deren oft recht zweifelhaften Nutzen für die Patienten




In den letzten Jahren ist bei Krebs häufig von einer „zielgerichteten“ bzw. „targeted Therapy“ die Rede. Die Medizin versucht demnach, eine passgenau auf den jeweiligen Patienten abgestimmte High-Tech-Medizin zu praktizieren. Erfüllt dieser Ansatz seine Versprechen?


Ludwig: Das wird derzeit noch mehr als Marketing-Begriff eingesetzt denn als wissenschaftlich fundierte neue Therapierichtung. Unbestreitbar ist, dass durch die Fortschritte in der Grundlagenforschung Zielstrukturen und Signalwege in Tumorzellen erkannt wurden, die für das bösartige Wachstum relevant sind. Das ist ein Riesenfortschritt. Aber daraus zu schlussfolgern, dass wir heute damit auch nur annähernd verstehen, welche Bedeutung diese Zielstrukturen und Signalwege für das Tumorwachstum einer Zelle haben und dass wir durch „zielgerichtete“ Therapiestrategien in einem signifikant höheren Prozentsatz Heilung erreichen können, das trifft definitiv nicht zu.

Die Kosten der neuen Therapien reichen bis zu 100.000 Euro pro Patient – was bekommen Sie dafür?

Ludwig: Die vorliegenden Ergebnisse aus klinischen Studien zeigen, dass es bisher nur sehr wenige Durchbrüche gegeben hat und der eigentliche Effekt vor allem darin besteht, dass sich die Kostenspirale in der Krebsmedizin in den nächsten Jahren ins Unbezahlbare steigern wird. Wir müssen deshalb ganz genau prüfen, welche dieser neuen Therapieformen den Patienten auch tatsächlich nützen. Häufig wird suggeriert, das seien Wirkstoffe mit weniger unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Das trifft jedoch nicht zu. Sie haben natürlich auch unerwünschte Wirkungen, weil sie z.B. zelluläre Signalwege beeinflussen, die nicht nur in Tumorzellen  sondern auch in normalen Zellen ablaufen. Die neuen Therapien erzeugen häufig andere unerwünschte Wirkungen als herkömmliche Chemotherapien, aber diese können die Lebensqualität der Patienten auch stark beeinträchtigen und selten auch lebensbedrohlich sein.

Stimmt der Eindruck, dass die klassischen Chemotherapien stark an Bedeutung verlieren?

Ludwig: Aus der Sicht des klinisch tätigen Onkologen ist das eine Behauptung, für die wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse aus großen klinischen Studien fehlen. Zytostatika haben nach wie vor einen hohen Stellenwert, weil ja die neuen Wirkstoffe meist nicht alleine sondern nur in Kombination mit den herkömmlichen Therapien wirksam sind. Die Industrie investiert in die Neuentwicklung besser wirksamer oder verträglicher Zytostatika allerdings wesentlich weniger Geld als in die Entwicklung von Biopharmazeutika (z.B. monoklonale Antikörper) oder sog. „small molecules“, weil die Preise, die für Zytostatika verlangt werden können, im Vergleich zu den neuen Wirkstoffen deutlich niedriger sind. Imatinib, ein „small molecule“ , das für recht seltene Krebsarten eingesetzt wird, hat beispielsweise heute etwa 50% des Umsatzvolmens aller ambulant verordneten Zytostatika.

Kann man als Onkologe eigentlich noch den Überblick bewahren bei der Unzahl an neuen Krebs-Medikamenten?

Ludwig: Eigentlich nicht. In den nächsten 5 Jahren kommen auf uns noch weitere 30 bis 50 neue Wirkstoffe zu. Zusätzlich zu jenen, die in den letzten Jahren zugelassen wurden – und über deren Wirksamkeit, Sicherheit und vor allen Dingen Zusatznutzen gegenüber den herkömmlichen Therapieoptionen wir häufig auch noch herzlich wenig wissen. Wir brauchen unbedingt zum Zeitpunkt der Zulassung neuer Wirkstoffe in der Onkologie unabhängige Informationsquellen, wann ein Arzneimittel eingesetzt werden soll und wann nicht. Aus den fast ausschließlich Industrie-finanzierten Zulassungsstudien ist das schwer abzuleiten. Deshalb sind auch nach Zulassung unabhängig von der Industrie finanzierte und geplante klinische Studien so wichtig, da nur in ihnen die versorgungsrelevanten Fragen untersucht und auch beantwortet werden können.

Aber auch diese Studien müssen doch ein strenges Prozedere erfüllen. Grenzt es nicht an Pharma-Bashing, wenn man diese Arbeiten immer gleich in den Geruch von Fälschung oder Beschönigung bringt?

Ludwig: Wir haben gerade in einer systematischen Übersichtsarbeit der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft den Einfluss der Finanzierung auf die Ergebnisse klinischer Studien untersucht. Auf den ersten Blick hat man den Eindruck, dass die Qualität der Industrie-gesponserten Arbeiten nicht schlechter ist als jene, die unabhängig finanziert wurden. Im Detail zeigen sich aber erhebliche Mängel im Design und der Auswertung, welche die Industrie in die Lage versetzen, mit diesen Studien fast immer ein Ergebnis zu erzeugen, das einen Vorteil für das eigene Mittel belegt. Die Sponsoren haben über viele Mechanismen die Möglichkeit, Studien zu beeinflussen. Erinnert sei nur an den Publication Bias, d.h. das bevorzugte Publizieren von Studien mit positiven Resultaten.

In den USA wurde von den Behörden kürzlich ein neues Tumormedikament zugelassen, das mit Behandlungskosten von 30.000 Dollar pro Monat wieder einen neuen Rekord aufstellt. Die Studien zeigten, dass durch das Mittel die Tumoren vorübergehend schrumpfen– eine Lebensverlängerung ist aber gar nicht erwiesen.

Ludwig: Das kann man fast pauschal sagen: Viele neue Wirkstoffe können ausschließlich das Fortschreiten der Tumorerkrankung um wenige Wochen bis Monate verzögern, das Überleben aber nicht – oder nur minimal – günstig beeinflussen. Das bewegt sich fast immer im Bereich von wenigen Tagen bis wenigen Monaten.

Aber ist nicht auch ein vorübergehender Stopp des Tumorwachstums von Vorteil?

Ludwig: Natürlich wäre das sinnvoll, wenn die Krebspatienten in dieser Zeit gleichzeitig eine bessere Lebensqualität hätten und die Symptome ihrer Krebserkrankung reduziert würden. Dies wird in klinischen Studien aber meist gar nicht oder unzureichend untersucht. Man guckt nach progressionsfreiem Überleben – und dann werden die Mittel zugelassen. Wir wollen aber wissen, ob die Patienten, in den leider häufig nur wenigen Monaten, die ihnen noch bleiben, eine bessere Lebensqualität haben, oder ob damit eine weniger toxische Therapie möglich ist, so dass die Patienten bei dem marginalen Überlebensvorteil zumindest auf Umwegen von diesen Wirkstoffen profitieren.

Man hat bei der Preisgestaltung dieser neuen Wirkstoffe den Eindruck, dass hier aus der Nähe zum Tod Kapital geschlagen wird.

Ludwig: Wenn medikamentöse Alternativen fehlen und es keine oder wenig Konkurrenz gibt, sind die Preise auffällig hoch und gehen in die Größenordnung von 60 - 80.000 Euro pro Patient und Jahr. Man kann den Herstellern sicherlich zum Vorwurf machen, dass sie an der Preisspirale drehen, ohne eindeutig zu zeigen, dass damit ein Nutzengewinn für die Patienten vorhanden ist. Aber andererseits ist es ja unser System, das sich erpressen lässt. Das Gesundheitssystem setzt nicht die geeigneten Instrumente ein, um den Patienten das zu sichern, was sie tatsächlich benötigen, und gleichzeitig das System finanzierbar zu halten.

In den Wochen vor dem Sterben werden so viele Ressourcen eingesetzt, wie davor im ganzen Leben des Sterbenden. Wollen die Patienten und deren Angehörige den maximalen Einsatz, oder geschieht dies auf Initiative des Medizinbetriebes?

Ludwig: Ich bin jetzt seit etwa 30 Jahren als Onkologe klinisch tätig und ich hatte immer ein viel besseres Gefühl, wenn ich einen Patienten mit einer vorbehandelten, weit fortgeschrittenen Tumorerkrankung im Gespräch davon überzeugen kann, dass z.B. Dritt- oder Viertlinien- Therapien häufig keinen Sinn machen, dass sie ihn mitunter an das Krankenhaus binden, und dass sie ihm nicht die Chance geben, Dinge zu regeln, die vielleicht lebensnotwendiger sind, als eine weitere Chemotherapie. Auch die Dankbarkeit des Patienten und der Angehörigen ist häufig viel größer, als wenn ich in einer ausweglosen Situation wieder eine neue Therapie beginne und dadurch auch dem intensiven, persönlichen Gespräch ausweiche.

Von Seiten der Industrie gibt es wüste Repliken, wenn die schlechte Wirksamkeit mancher Arzneimittel behauptet wird. Immerhin sei es ja beispielsweise gelungen, kindliche Leukämien zu heilen.

Ludwig: Solche Behauptungen entbehren jeder Unterlage, weil gerade diese enormen Fortschritte ja nicht von der pharmazeutischen Industrie kommen. Die meisten in der Behandlung kindlicher Leukämien verwendeten Arzneimittel sind mehr als 40 Jahre alt. Ihr Einsatz im Rahmen risikoadaptierter Therapiestrategien wurde von engagierten Kinderärzten so optimiert, dass die Fortschritte möglich waren. Die neuen Arzneimittel, von denen wir unter dem Begriff der „zielgerichteten“ Therapie reden, haben daran gar keinen Beitrag.

Welches der neuen Arzneimittel stellt für Sie einen wirklichen Meilenstein in der Krebstherapie dar?

Ludwig: Eine der wenigen neuen Wirkstoffe, die wirklich einen echten Durchbruch darstellt, ist Imatinib (Handelsname: Glivec) zur Behandlung der Chronischen Myeloischen Leukämie (CML) und anderer seltener Tumore. Die Überlebenszeit der CML betrug früher im Durchschnitt ca. 3-5 Jahre und die Erkrankung konnte nur durch eine allogene Stammzelltransplantation geheilt werden. In den Tumorzellen der CML findet sich eine spezifische genetische Veränderung, deren Konsequenzen für die Zellen von Imatinib gezielt verhindert werden können. Bei soliden Tumoren wie Darmkrebs oder dem Bauchspeicheldrüsenkrebs haben wir dagegen häufig zehn bis zwölf unterschiedliche Signalwege, die infolge der bösartigen Entartung der Zellen verändert sind. Diese können wir gar nicht gezielt attackieren, weil wir nicht genau wissen, welcher Signalweg entscheidend für das bösartige Wachstum der Zelle ist. Ein weiteres Beispiel für einen erfolgreichen neuen Wirkstoff ist Trastuzumab (Handelsname: Herceptin), der bei bestimmten Formen des Brustkrebses ohne Zweifel die Therapiergebnisse verbessern konnte. Weitere monoklonale Antikörper, wie Rituximab (Handelsname: MabThera) oder Bevacizumab (Handelsname: Avastin), haben auch einen gewissen – im Vergleich zu Imatinib aber deutlich geringeren – Nutzen in der Behandlung maligner Lymphome oder von Darmkrebs. Die von der Herstellerfirma Roche derzeit verfolgte Marketingstrategie, Avastin als Pan-Tumormedikament anzupreisen, empfinde ich jedoch als skandalös. Denn bei vielen Anwendungsgebieten, für die der Antikörper kürzlich zugelassen wurde (z.B. Brust-, Nierenzellkrebs), ist unklar, ob wirklich Patienten davon profitieren.

Der Onkologe Wolf-Dieter Ludwig, 57, ist Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft und Chefarzt der Robert-Rössle-Klinik am Helios Klinikum Berlin-Buch. Ende Januar hielt er im Haus der Gesellschaft der Ärzte in Wien einen Vortrag über „Teure Innovationen in der Onkologie“.
Dies ist die Langversion eines Interviews, das in der aktuellen Ausgabe des österr. Nachrichtenmagazins profil im Rahmen der Titelgeschichte "Therapie zum Tod - Schlussbilanz" erschienen ist.

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